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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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in der Eleganz; der Unterschied lag in der
Kunst. Irgendwie freute ihn diese an sich naheliegende Erkenntnis. Jahre später
las Garp in einer kritischen Einführung in Grillparzers Werk, Grillparzer sei
»sensibel, zerrissen, manchmal paranoid, oft deprimiert, exzentrisch und
zutiefst niedergeschlagen gewesen; kurz, ein vielschichtiger und moderner
Mensch«.
    »Mag sein«, schrieb Garp. »Aber
er war auch ein außerordentlich schlechter Schriftsteller.«
    Garps Überzeugung, dass
Grillparzer ein »schlechter« Schriftsteller war, schien dem jungen Mann sein
erstes echtes Selbstvertrauen als Künstler einzuflößen – noch ehe er etwas
geschrieben hatte. Vielleicht muss es im Leben jedes angehenden Schriftstellers
diesen Augenblick geben, in dem ein anderer Schriftsteller beschuldigt wird,
seinen Beruf verfehlt zu haben. Garps »Killerinstinkt« in Bezug auf den armen
Grillparzer glich dem eines Ringers, der insgeheim einen Gegner im Kampf gegen
einen anderen Ringer beobachtet hat; Garp hatte Grillparzers Schwächen
ausgemacht und wusste, dass er es besser konnte. Er
zwang sogar Jenny, Der arme Spielmann zu lesen. Es
war eines der wenigen Male, dass er sie um ihr literarisches Urteil bat.
    »Mist«, verkündete Jenny.
»Dümmlich. Weinerlich. Süßlicher Schwulst.«
    Sie waren beide hocherfreut.
    [178]  »Ich mochte schon sein Zimmer
nicht sehr«, erklärte Jenny. »Es war einfach nicht das Zimmer eines
Schriftstellers.«
    »Na, ich glaube nicht, dass es
darauf ankommt, Mom«, sagte Garp.
    »Aber es war so vollgestopft«,
beschwerte sich Jenny. »Es war zu dunkel, und es wirkte schrecklich pompös.«
    Garp spähte in das Zimmer seiner
Mutter. Ihr Bett und ihre Kommode – und sogar der Wandspiegel, an dem
beschriebene Blätter klebten, so dass seine Mutter sich kaum noch darin sehen
konnte – waren übersät mit den Seiten ihres unglaublich langen und schlampigen
Manuskripts. Garp fand, dass das Zimmer seiner Mutter auch nicht gerade wie das
Zimmer eines Schriftstellers aussah, aber er sagte es nicht.
    Er schrieb Helen einen langen,
kecken Brief, in dem er Mark Aurel zitierte und Franz Grillparzer verriss. Nach
Garps Ansicht »starb Franz Grillparzer 1872 für immer, und wie ein billiger
Landwein lässt er sich schlecht transportieren und ist außerhalb Wiens
praktisch ungenießbar«. Der Brief war eine Art Muskelspiel – vielleicht wusste
Helen das. Der Brief war eine Form von Gymnastik – Garp machte einen
Durchschlag davon und kam zu dem Schluss, er sei so gut, dass er das Original
behalten und Helen den Durchschlag schicken würde. »Ich komme mir ein bisschen
vor wie eine Bibliothek«, schrieb Helen zurück. »Oder als wolltest Du mich als
Deine Aktenschublade benutzen.«
    Beschwerte sich Helen ernsthaft?
Garp hatte nicht genug Gespür für Helens Leben, um ihr diese Frage zu stellen.
Er [179]  schrieb nur zurück, er sei nun »bald bereit zum Schreiben«. Er hoffe
zuversichtlich, dass die Ergebnisse ihr gefallen würden. Vielleicht fühlte sich
Helen von ihm eingeschüchtert, aber sie ließ sich nichts davon anmerken; auf
dem College belegte sie fast dreimal so viele Kurse wie die meisten anderen
Studenten. Gegen Ende ihres ersten Semesters hatte sie das Pensum des vierten
Semesters geschafft. Die Beschäftigung eines jungen Schriftstellers mit sich
selbst und sein starkes Ego erschreckten Helen Holm nicht; sie bewegte sich mit
dem ihr eigenen bemerkenswerten Tempo voran, und sie wusste jemanden zu
schätzen, der Entschlusskraft besaß. Außerdem gefielen ihr Garps Briefe; sie
hatte ebenfalls ein starkes Ego, und seine Briefe, erklärte sie ihm wiederholt,
waren schrecklich gut geschrieben.
    In Wien fingen Jenny und Garp an,
sich mit Grillparzer-Witzen zu amüsieren. Sie entdeckten plötzlich überall in
der Stadt Spuren des toten Grillparzer. Es gab eine Grillparzergasse, es gab
ein Kaffeehaus Grillparzer, und eines Tages fanden sie in einer Konditorei zu
ihrem Erstaunen eine Art Schichttorte, die nach ihm benannt war:
Grillparzertorte! Sie war viel zu süß. Wenn Garp für seine Mutter Frühstück
machte, fragte er sie, ob sie ihr Ei weich oder gegrillparzert wolle. Und eines
Tages beobachteten sie im Zoo von Schönbrunn eine besonders hagere Antilope mit
dürren kotverschmierten Flanken. Garp identifizierte sie als das
Grillparzergnu. Eines Tages meinte Jenny im Zusammenhang mit ihrem Manuskript,
sie habe »einen Grillparzer gemacht«. Das bedeutete, wie sie erklärte, sie habe
eine Szene oder eine

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