Garp und wie er die Welt sah
Gestalt »wie einen losrasselnden Wecker« eingeführt. Die
Szene, die sie dabei im Sinn hatte, war [180] die Szene in dem Bostoner Kino, als
der Soldat sich ihr genähert hatte: »In dem Kino«, schrieb Jenny Fields,
»näherte sich mir ein Soldat, der sich vor Wollust verzehrte.«
»Das ist schrecklich, Mom«, fand
Garp. Mit »einen Grillparzer machen« meinte Jenny die Formulierung »der sich
vor Wollust verzehrte«.
»Aber so war es«, sagte Jenny.
»Es war Wollust und nichts anderes.«
»Es ist besser, wenn du sagst, er
barst vor Lust«, schlug Garp vor.
»Puh«, sagte Jenny. Noch ein
Grillparzer. Es war vor allem die Wollust, die sie störte – ganz allgemein. Sie
diskutierten über die Wollust, so gut sie konnten. Garp bekannte sein Begehren
für Cushie Percy und gab eine gemäßigte Version der verzehrenden Szene zum
Besten. Sie missfiel Jenny. »Und Helen?«, fragte Jenny. »Fühlst du das auch für
Helen?«
Garp gestand ein, dass es so war.
»Wie schrecklich«, sagte Jenny.
Sie verstand das Gefühl nicht und sah nicht, wie Garp es jemals mit Genuss,
geschweige denn mit Zuneigung verbinden konnte.
»›Alles Körperliche ist wie
eilendes Wasser‹«, sagte Garp halbherzig, indem er Mark Aurel zitierte. Seine
Mutter schüttelte nur den Kopf. Sie aßen in einem sehr roten Restaurant in der
Nähe der Blutgasse zu Abend. »Blood Street«, übersetzte Garp ihr glücklich.
»Hör auf, alles zu übersetzen«,
sagte Jenny. »Ich will gar nicht alles wissen.« Sie fand die Dekoration des
Restaurants zu rot und das Essen zu teuer. Die
Bedienung war langsam, und sie machten sich zu spät auf den Heimweg. Es war
sehr [181] kalt, und die fröhlichen Lichter der Kärntner Straße wärmten sie leider
nicht.
»Lass uns ein Taxi nehmen«, sagte
Jenny. Aber Garp meinte dickköpfig, fünf Straßen weiter könnten sie ebenso gut
eine Straßenbahn nehmen. »Du und deine verdammten Straßenbahnen «,sagte Jenny.
Das Thema »Wollust« hatte ihnen
eindeutig den Abend verdorben.
Der erste Bezirk glitzerte in
weihnachtlichem Flitter; zwischen den schlanken Turmspitzen des Stephansdoms und
dem massigen Gebäude der Staatsoper lagen sieben Häuserblocks mit Geschäften
und Bars und Hotels; diese sieben Häuserblocks hätten im Winter überall auf der
Welt sein können. »Irgendwann müssen wir einmal in die Oper gehen, Mom«, schlug
Garp vor. Sie waren seit sechs Monaten in Wien und noch nie in der Oper
gewesen, aber Jenny blieb abends nicht gern lange auf.
»Geh allein«, sagte Jenny. Sie
sah, ein Stück vor ihnen, drei Frauen in langen Pelzmänteln stehen; die eine
hatte einen passenden Pelzmuff, und sie hielt sich den Muff vors Gesicht und
blies hinein, um sich die Hände zu wärmen. Sie war recht elegant anzuschauen,
aber die beiden anderen Frauen hatten etwas weihnachtlich Flitterhaftes an
sich. Jenny beneidete die Frau um ihren Muff. »So etwas will ich auch haben«,
verkündete sie. »Wo kann ich so einen bekommen?« Sie zeigte auf die Frauen vor
ihnen, aber Garp wusste nicht, was sie meinte.
Dagegen wusste er, dass die
Frauen Huren waren.
Als die Huren Jenny mit Garp auf
sich zukommen sahen, wussten sie nicht, was sie von dem Gespann halten [182] sollten.
Sie sahen einen gutaussehenden jungen Mann mit einer schlichten, aber
gutaussehenden Frau, die alt genug war, um seine Mutter zu sein; aber Jenny
hakte sich ziemlich formell bei Garp ein, wenn sie mit ihm ging, und das
Gespräch zwischen Jenny und Garp hatte etwas Angespanntes und Konfuses – was
bei den Huren den Eindruck erweckte, Jenny könnte nicht Garps Mutter sein. Dann zeigte Jenny mit dem Finger auf sie, und sie wurden
wütend; sie dachten, Jenny sei auch eine Hure, die in ihrem Revier arbeite und
ihnen einen jungen Mann weggeschnappt hätte, der wohlhabend und nicht
unsympathisch wirkte – einen hübschen jungen Mann, an dem sie sonst vielleicht verdient hätten.
In Wien ist die Prostitution
legal; sie wird umständlich unter Kontrolle gehalten. Es gibt so etwas wie eine
Prostituiertengewerkschaft; es gibt ärztliche Atteste, regelmäßige
Untersuchungen, Ausweise. Nur die schönsten Prostituierten dürfen in den feinen
Straßen des ersten Bezirks arbeiten. In den umliegenden Bezirken sind die
Prostituierten hässlicher oder älter oder beides und natürlich auch billiger.
Eigentlich sollten sie in allen Bezirken festgesetzte Preise nehmen. Als die
Huren Jenny sahen, traten sie auf dem Bürgersteig auseinander, um Jenny und
Garp den Weg zu
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