Garp und wie er die Welt sah
versperren. Sie waren schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass
Jenny nicht ganz dem Standard einer Prostituierten des ersten Bezirks entsprach
und dass sie wahrscheinlich nicht registriert war – was illegal ist – oder den
ihr zugewiesenen Bezirk verlassen hatte, um ein bisschen mehr Geld nehmen zu
können; was ihr eine Menge Scherereien mit den anderen Prostituierten
einbringen würde.
[183] In Wahrheit hätten die
wenigsten Leute Jenny für eine Prostituierte gehalten, aber ihr Aussehen lässt
sich schwer beschreiben. Sie hatte so viele Jahre ihre Schwesterntracht
getragen, dass sie nicht recht wusste, wie sie sich in Wien anziehen sollte;
sie neigte dazu, sich zu sehr herauszuputzen, wenn sie mit Garp ausging –
vielleicht als Ausgleich zu dem alten Bademantel, in dem sie schrieb. Sie hatte
keinerlei Erfahrung im Kleider kaufen, und in einer fremden Stadt kam ihr alles
irgendwie fremdartig vor. Da ihr nichts Bestimmtes vorschwebte, kaufte sie
einfach immer das Teuerste; schließlich hatte sie genug Geld und hatte
andererseits weder Geduld noch Lust, Preise zu vergleichen. Infolgedessen fiel
sie in ihren neuen Sachen auf, und sie und Garp sahen nicht aus, als ob sie aus
derselben Familie kämen. Garp hatte in Steering immer nur Sakko und Krawatte und
bequeme Hosen getragen – eine saloppe Stadtuniform, in der er nirgendwo
auffiel.
»Würdest du die Frau bitte
fragen, wo sie diesen Muff gekauft hat?«, sagte Jenny zu Garp. Zu ihrer
Überraschung blockierten die Frauen den Bürgersteig, um sie und Garp aufzuhalten.
»Es sind Huren, Mom«, flüsterte Garp ihr zu.
Jenny Fields erstarrte. Die Frau
mit dem Muff redete heftig auf sie ein. Jenny verstand natürlich kein Wort; sie
sah Garp fragend an, damit er übersetzte. Die Frau überschüttete Jenny mit
einem Wortschwall, aber Jenny wandte die Augen nicht von ihrem Sohn.
»Meine Mutter wollte Sie nur
fragen, wo Sie Ihren hübschen Muff gekauft haben«, sagte Garp in seinem
langsamen Deutsch.
[184] »Oh, es sind Ausländer «, sagte eine.
»Gott, sie ist seine Mutter «, sagte eine andere.
Die Frau mit dem Muff starrte
Jenny an, die jetzt den Muff der Frau anstarrte. Eine der Huren war ein junges
Mädchen mit hoch aufgetürmtem Haar, in dem lauter kleine goldene und silberne
Sterne glitzerten; außerdem hatte sie einen tätowierten grünen Stern auf einer
Wange und eine Narbe, die ihre Oberlippe kaum merklich verzerrte – so dass man
im ersten Augenblick nicht wusste, was mit ihrem
Gesicht nicht stimmte, man wusste nur, dass etwas
nicht stimmte. Mit ihrem Körper jedoch stimmte alles; sie war groß und sehr
schlank, und ein unerträglicher Anblick, obgleich Jenny sich jetzt dabei
ertappte, dass sie das Mädchen anstarrte.
»Frag sie, wie alt sie ist«,
sagte Jenny zu Garp.
»Ich bin eighteen «,sagte das Mädchen. »I know gut English.«
»So alt ist mein Sohn auch«,
sagte Jenny und stieß Garp mit dem Ellbogen in die Rippen. Sie begriff nicht,
dass die drei sie für eine von ihnen gehalten hatten;
als Garp es ihr später erzählte, war sie außer sich vor Wut – aber nur auf sich
selbst. »Das liegt an meinen Sachen!«, rief sie. »Ich kann mich nicht
anziehen!« Und von diesem Augenblick an sollte sich Jenny Fields nur noch wie
eine Krankenschwester kleiden: Sie legte ihre Uniform wieder an und trug sie
überall – als wäre sie für immer im Dienst, obwohl sie nie wieder
Krankenschwester sein würde.
»Darf ich Ihren Muff einmal
sehen?«, fragte Jenny die Frau, die einen hatte; Jenny hatte angenommen, sie
sprächen alle Englisch, aber nur das junge Mädchen konnte ein [185] paar Brocken.
Garp übersetzte, und die Frau ließ ihren Muff widerstrebend los, und ein
Schwall von Parfüm entströmte dem warmen Nest, in dem sich ihre schmalen, von
Ringen funkelnden Hände ineinandergeklammert hatten.
Die dritte Hure hatte auf der
Stirn eine Pockennarbe, die dem Abdruck eines Pfirsichkerns ähnelte. Abgesehen
von diesem Makel und einem kleinen feisten Mund, der an den Mund eines
übergewichtigen Kindes erinnerte, war sie eine reife Schönheit – in den
Zwanzigern, nahm Garp an; wahrscheinlich hatte sie einen gewaltigen Busen, aber
bei dem schwarzen Pelzmantel, den sie trug, ließ sich das nicht mit Sicherheit
sagen.
Die Frau mit dem Muff war sehr
schön, fand Garp. Sie hatte ein schmales, etwas traurig wirkendes Gesicht. Er
stellte sich vor, dass sie eine schöne Figur hatte. Nur ihre Augen und ihre
bloßen Hände in der kalten Nacht ließen Garp
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