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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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C«, sagte
Vater.
    »Ist und bleibt C«, sagte
ich.
    »Ich, für meinen Teil, würde
eher sagen E oder F«, erklärte Großmutter.
    Im schummrigen Teesalon sang
ein Mann ohne Krawatte ein ungarisches Lied. »Das heißt ja noch nicht, dass er
Ungar ist«, sagte Vater in beruhigendem Ton zu Johanna, aber sie blieb
skeptisch.
    »Ich würde sagen, der
Anschein spricht gegen ihn«, meinte sie. Sie wollte weder Tee noch Kaffee. Robo
aß ein kleines Stück Kuchen, das ihm angeblich schmeckte. Meine Mutter und ich
rauchten eine Zigarette; sie versuchte ständig aufzuhören, und ich versuchte
anzufangen. Deshalb teilten wir uns eine Zigarette – wir hatten sogar gelobt,
nie ohne den anderen zu rauchen.
    »Großartig«, flüsterte Herr
Theobald meinem Vater zu und deutete auf den Sänger. »Er kennt Lieder aus aller
Welt.«
    »Zumindest aus Ungarn«,
sagte Großmutter, aber sie lächelte.
    Ein schmächtiger Mann,
glattrasiert, aber mit jenem unvergänglichen stahlblauen Bartschatten in seinem
hageren Gesicht, sprach meine Großmutter an. Er trug ein sauberes weißes Hemd
(wenn auch fadenscheinig vom [204]  Alter und vom vielen Waschen), Anzughosen und
eine nicht dazu passende Jacke.
    »Wie bitte?«, sagte Großmutter.
    »Ich sagte, dass ich Träume
kenne«, sagte der Mann zu ihr.
    »Sie kennen Träume«, sagte
Großmutter. »Sie meinen, Sie haben sie?«
    »Ich habe sie und kenne
sie«, sagte der Mann geheimnisvoll. Der Sänger hörte auf zu singen.
    »Jeden Traum, den Sie wissen
möchten«, sagte der Sänger. »Er erzählt ihn.«
    »Ich bin ziemlich sicher,
dass ich keinen wissen möchte«, sagte Großmutter. Missbilligend musterte sie
das dichte dunkle Haarbüschel, das dem Sänger aus dem offenen Hemdkragen quoll.
Den Mann, der Träume »kannte«, beachtete sie nicht einmal.
    »Ich sehe, dass Sie eine
vornehme Dame sind«, sagte der Mann mit den Träumen zu Großmutter. »Sie
reagieren nicht auf jeden beliebigen Traum.«
    »Bestimmt nicht«, sagte
Großmutter. Sie schoss einen ihrer »Wie kannst du mir so etwas nur
antun?«-Blicke auf meinen Vater ab.
    »Aber ich weiß einen«, sagte
der Mann mit den Träumen; er schloss die Augen. Der Sänger zog sich einen Stuhl
heran, und uns fiel plötzlich auf, wie nahe er uns gekommen war. Robo hockte,
obwohl er eigentlich zu groß dafür war, auf Vaters Schoß. »In einer großen
Burg«, begann der Mann mit den Träumen, »lag eine Frau neben ihrem Mann. Sie
war plötzlich, mitten in der Nacht, hellwach. Sie erwachte, ohne die leiseste
Ahnung, [205]  was sie geweckt haben könnte, und sie fühlte sich so munter, als
wäre sie schon seit Stunden auf. Sie spürte, ohne dass es eines Blickes, eines
Wortes oder einer Berührung bedurfte, dass ihr Mann ebenfalls hellwach war –
und genauso plötzlich wie sie.«
    »Hoffentlich ist das auch
für Kinderohren geeignet, haha«, sagte Herr Theobald, aber niemand würdigte ihn
auch nur eines Blickes. Meine Großmutter legte die Hände in den Schoß und
starrte darauf hinab – die Knie zusammengepresst, die Füße unter ihren Stuhl
mit der hohen geraden Lehne geschoben. Meine Mutter hielt meines Vaters Hand.
    Ich saß neben dem Mann mit
den Träumen, dessen Jacke nach Zoo roch. Er sagte: »Die Frau und ihr Mann lagen
wach und horchten auf Geräusche in der Burg, die sie nur vorübergehend gemietet
hatten und die ihnen nicht vertraut war. Sie horchten auf Geräusche im Burghof,
den sie nie zusperrten. Die Dorfbewohner pflegten um die Burg herum
spazierenzugehen; die Dorfkinder durften mit dem großen Hoftor hin- und
herschwingen. Was hatte das Paar geweckt?«
    »Bären?«, sagte Robo. Aber Vater
legte die Fingerspitzen auf Robos Mund.
    »Sie hörten Pferde«, sagte
der Mann mit den Träumen. Die alte Johanna, die mit geschlossenen Augen und
gesenktem Kopf dasaß, schien auf ihrem unbequemen Stuhl zu erschauern. »Sie
hörten das Schnauben und Stampfen von Pferden, die versuchten, keine Geräusche
zu machen«, sagte der Mann mit den Träumen. »Der Mann streckte die Hand aus und
berührte seine Frau. [206]  ›Pferde?‹, sagte er. Die Frau stand auf und ging ans
Fenster zum Hof. Sie würde noch heute schwören, dass der Hof voller berittener
Soldaten war – aber was für Soldaten! Sie trugen Rüstungen! Die Visiere ihrer
Helme waren geschlossen, und ihre murmelnden Stimmen klangen so blechern und
waren so undeutlich zu vernehmen wie bei einem Radiosender mit schlechtem Empfang.
Ihre Rüstungen schepperten, wenn ihre Pferde unruhig von einem

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