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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einer
Infektion der Atemwege gestorben.«
    »Ach du liebes bisschen!«,
sagte Herr Theobald. »Verzeihung, gnädige Frau«, sagte er dann, zu Großmutter
gewandt, aber die alte Johanna würdigte ihn keiner Antwort.
    Wir gingen mit Großmutter in
ein Restaurant der Kategorie A, aber sie rührte ihr Essen kaum an. »Dieser Kerl
war ein Zigeuner«, sagte sie. »Ein Satan – und ein Ungar.«
    »Bitte, Mutter«, sagte meine
Mutter. »Er konnte das mit Vater nicht wissen.«
    »Er wusste mehr, als du
weißt«, blaffte Großmutter.
    »Das Schnitzel ist
exzellent«, sagte Vater und machte sich eine Notiz in seinem Block. »Der
Gumpoldskirchner ist genau der richtige Wein dazu.«
    »Die Kalbsnieren sind sehr
gut«, sagte ich.
    »Die Eier sind in Ordnung«,
sagte Robo.
    Großmutter sagte nichts, bis
wir in die Pension Grillparzer zurückkehrten, wo wir bemerkten, dass die Tür
zum WC erst gut dreißig Zentimeter über dem
Boden begann, so dass sie Türen in amerikanischen Bedürfnisanstalten oder einer
Saloon-Tür in einem Western ähnelte. [210]  »Ich bin entschieden froh, dass ich im
Restaurant das WC aufgesucht habe«, sagte Großmutter.
»Wie abstoßend! Ich werde versuchen, die Nacht zu überstehen, ohne meine bloßen
Knöchel den Blicken aller Vorübergehenden auszusetzen!«
    In unserem Familienzimmer
sagte Vater: »Hat Johanna nicht auch einmal in einer Burg gewohnt? Vor langer,
langer Zeit haben sie und Opa, glaube ich, einmal irgendeine Burg gemietet.«
    »Ja, das war vor meiner
Geburt«, sagte Mutter. »Sie haben Schloss Katzelsdorf gemietet. Ich habe die
Fotos gesehen.«
    »Deshalb hat der Traum des
Ungarn sie so aus der Fassung gebracht«, sagte Vater.
    »Draußen im Flur fährt einer
Fahrrad«, sagte Robo. »Ich habe ein Rad vorbeirollen gesehen – unter unserer
Tür.«
    »Robo, schlaf jetzt«, sagte
Mutter.
    »Es hat ›quietsch, quietsch‹
gemacht«, sagte Robo.
    »Gute Nacht, Jungs«, sagte
Vater.
    »Wenn du reden kannst,
können wir auch reden«, sagte ich.
    »Dann redet miteinander«,
sagte Vater. »Ich rede mit eurer Mutter.«
    »Ich möchte jetzt schlafen«,
sagte Mutter. »Ich wünschte, niemand würde reden.«
    Wir versuchten es.
Vielleicht schliefen wir auch. Dann flüsterte Robo mir zu, dass er aufs WC müsse.
    »Du weißt ja, wo es ist«,
sagte ich.
    Robo ging aus dem Zimmer und
ließ die Tür [211]  angelehnt; ich hörte, wie er durch den Flur ging und mit einer
Hand an der Wand entlangstrich. Er kam sehr schnell wieder zurück.
    »Da ist jemand im WC «, sagte er.
    »Dann warte, bis es frei
ist«, sagte ich.
    »Das Licht war nicht an«,
sagte Robo, »aber ich konnte trotzdem unter der Tür durchschauen. Da ist jemand
drin, im Dunkeln.«
    »Ich pinkle auch lieber im
Dunkeln«, sagte ich.
    Aber Robo ließ sich nicht
davon abhalten, mir genau zu erzählen, was er gesehen hatte. Er sagte, unter
der Tür seien zwei Hände gewesen.
    »Hände?«, fragte ich.
    »Ja – da, wo die Füße
gewesen sein müssten«, sagte Robo; er behauptete, dass auf jeder Seite der
Toilette eine Hand gewesen sei – statt eines Fußes.
    »Verschwinde, Robo!«, sagte
ich.
    »Bitte komm mit, und sieh es
dir selbst an«, flehte er. Ich ging mit ihm durch den Flur, aber im WC war niemand. »Er ist nicht mehr da«, sagte er.
    »Bestimmt ist er auf seinen
Händen davonspaziert«, spottete ich. »Los, geh jetzt pinkeln. Ich warte hier
auf dich.«
    Er ging ins WC, und aus dem Dunkeln tröpfelte es traurig. Als wir
fast wieder in unserem Zimmer waren, ging ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit
dem gleichen Bartschatten, der gleichen Haut und ebenso gekleidet wie der Mann
mit den Träumen, der Großmutter verärgert hatte, im Gang an uns vorbei. Er
zwinkerte uns zu und lächelte. Es war nicht zu übersehen, dass er auf Händen
ging.
    [212]  »Siehst du?«, flüsterte
Robo mir zu. Wir gingen in unser Zimmer und schlossen die Tür.
    »Was ist?«, fragte Mutter.
    »Draußen ist ein Mann, der
auf Händen geht«, sagte ich.
    »Ein Mann, der auf Händen
pinkelt«, sagte Robo.
    »Klasse C«, murmelte Vater
im Schlaf; Vater träumte oft, dass er sich Notizen in seinem riesigen Block
machte.
    »Wir sprechen morgen früh
darüber«, sagte Mutter.
    »Wahrscheinlich nur ein
Akrobat, der vor dir angeben wollte, weil du noch so klein bist«, sagte ich zu
Robo.
    »Woher wusste er denn, dass
ich noch so klein bin, als er im WC war?«, fragte Robo
mich.
    »Schlaft jetzt«, flüsterte
Mutter.
    Dann hörten wir Großmutter
hinten im Flur

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