Garp und wie er die Welt sah
berechnete, vor seiner Mutter sehr viel leichter
verheimlichen ließen.
Charlotte hatte eine schlechte
Meinung von ihren Kolleginnen, die außerhalb des ersten Bezirks arbeiteten.
Einmal erzählte sie Garp, sie habe vor, sich beim ersten Anzeichen, dass sie
nicht mehr für den ersten Bezirk qualifiziert sei, vom Geschäft zurückzuziehen.
Sie werde nie in den äußeren Bezirken arbeiten. Sie habe eine Menge Geld
gespart, erzählte sie ihm, und sie wolle nach München (wo niemand wusste, dass
sie eine Hure war) und einen jungen Arzt heiraten, der sich in jeder Beziehung
um sie kümmern konnte, bis sie starb; sie brauchte Garp nicht zu sagen, dass
sie schon immer jüngere Männer angezogen hatte, aber Garp nahm ihr übel, dass
sie – auf lange Sicht – Ärzte für erstrebenswert hielt. Vielleicht war es diese
frühe Konfrontation mit der Attraktivität von Ärzten, die Garp im Laufe seines
Schriftstellerlebens veranlasste, seine Romane und Erzählungen mit etlichen
unsympathischen Gestalten aus der Welt der Medizin zu bevölkern. Falls es so
war, wurde er sich dessen zumindest erst später bewusst. In der Erzählung Die Pension Grillparzer ist von keinem Arzt die Rede. Am
Anfang ist auch nur sehr wenig vom Tod die Rede, obwohl er das Thema ist, auf
das die Geschichte zusteuert. Anfangs hatte Garp nur einen Traum vom Tod, aber
es war ein Walfisch von einem Traum, und er schenkte ihn der ältesten lebenden
Person in seiner Geschichte: einer Großmutter. Garp nahm an, dies bedeute, dass
sie als Erste sterben werde.
[195] DIE PENSION GRILLPARZER
Mein Vater war für das
Österreichische Fremdenverkehrsamt tätig. Es war die Idee meiner Mutter, dass
wir alle mit ihm fuhren, wenn er als Spion des Fremdenverkehrsamts auf Reisen
ging. Und so begleiteten meine Mutter und mein Bruder und ich ihn auf jeder
seiner geheimen Missionen, um die Unfreundlichkeit, den Staub, das schlecht
zubereitete Essen, kurz, all die Unterlassungssünden österreichischer
Restaurants, Hotels und Pensionen ans Licht zu bringen. Wir hatten Anweisung,
bei jeder Gelegenheit Schwierigkeiten zu machen, nie genau das zu bestellen,
was auf der Speisekarte stand, und noch den abwegigsten Wunsch zu äußern, den
ein Gast so vorbringen würde – zur Unzeit baden zu wollen, Aspirin zu verlangen
oder eine Wegbeschreibung zum Zoo. Wir hatten Anweisung, höflich, aber lästig
zu sein; und anschließend im Auto berichteten wir meinem Vater.
Meine Mutter sagte zum
Beispiel: »Der Friseur hat morgens immer geschlossen. Aber sie empfehlen einem
ganz gute Adressen. Ich finde, es wäre alles in Ordnung, wenn sie nicht
behaupteten, sie hätten einen Friseur im Hotel.«
»Schön, aber sie behaupten
es«, sagte mein Vater und machte sich eine Notiz auf seinem riesigen Block.
Ich war immer für den Wagen
verantwortlich. Ich sagte: »Der Wagen wird zwar in die Garage gefahren, aber
zwischen dem Zeitpunkt, als wir ihn dem Portier übergaben, und dem Moment, als
wir ihn wieder abholten, ist jemand vierzehn Kilometer damit gefahren.«
[196] »Das ist eine Sache, die
man der Geschäftsleitung mitteilen muss«, sagte mein Vater und notierte es.
»Die Toilettenspülung war
defekt«, sagte ich.
»Ich habe die Tür zum WC nicht aufgekriegt«, sagte mein Bruder Robo.
»Robo«, sagte Mutter, »du
hast immer Schwierigkeiten mit Türen.«
»War das Klasse C?«, fragte
ich.
»Ich fürchte, nein«, sagte
mein Vater. »Es läuft doch noch unter B.« Wir fuhren eine Weile schweigend
weiter; unser Urteil wollte immer besonders wohlüberlegt sein, wenn es um die
Neubewertung eines Hotels oder einer Pension ging. Wir empfahlen nicht
leichtfertig eine Änderung der Klasse.
»Ich meine, das erfordert
einen Brief an die Geschäftsleitung«, sagte meine Mutter. »Keinen zu freundlichen
Brief, aber auch keinen richtig harten. Nur die Tatsachen.«
»Ja. Ich fand den Mann ganz
sympathisch«, sagte Vater. Er legte immer Wert darauf, die Geschäftsführer
persönlich kennenzulernen.
»Vergiss nicht zu erwähnen,
dass sie mit unserem Auto gefahren sind«, sagte ich. »Das ist wirklich
unverzeihlich.«
»Und die Eier haben nicht
geschmeckt«, sagte Robo; er war noch nicht ganz zehn, und seine Meinung wurde
nicht ernsthaft berücksichtigt.
Wir wurden ein sehr viel
unbarmherzigeres Bewertungsteam, als mein Großvater starb und wir Großmutter
erbten – die Mutter meiner Mutter, die uns von nun [197] an auf unseren Reisen
begleitete. Johanna, eine würdige Matrone, war Reisen der
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