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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Huf auf den
andern traten.
    Im Burghof gab es ein altes
leeres Becken von einem ehemaligen Brunnen, aber die Frau sah, dass Wasser aus
dem Brunnen quoll; es schwappte über den verwitterten Rand, und die Pferde
tranken davon. Die Soldaten waren auf der Hut; machten keine Anstalten
abzusitzen; sie blickten zu den dunklen Fenstern der Burg hinauf, als wüssten
sie, dass sie an dieser Tränke – an diesem Rastplatz irgendwo auf ihrem Weg –
ungebetene Gäste waren.
    Die Frau sah ihre großen
Schilde im Mondlicht aufblitzen. Sie kroch wieder unter die Decke und drängte
sich eng an ihren Mann.
    ›Was siehst du?‹, fragte er.
    ›Pferde‹, sagte sie.
    ›Dachte ich’s mir doch‹,
sagte er. ›Sie werden die Blumen fressen.‹
    ›Wer hat diese Burg
gebaut?‹, fragte sie ihn. Es war eine sehr alte Burg, das wussten sie beide.
    ›Karl der Große ‹ , sagte er und schlief schon
wieder ein.
    Aber die Frau blieb wach und
horchte auf das Wasser, [207]  das jetzt durch die ganze Burg zu fließen, und in
allen Rohren zu gurgeln schien, als zöge der alte Brunnen Wasser aus jeder
verfügbaren Quelle. Und da waren die verzerrten Stimmen der raunenden Soldaten – der Soldaten Karls des Großen, die ihre tote Sprache sprachen! Für die Frau
waren die Stimmen der Soldaten ebenso schreckenerregend wie das achte
Jahrhundert und die Menschen, die Franken hießen. Die Pferde tranken immer
noch.
    Die Frau lag noch lange wach
und wartete darauf, dass die Soldaten fortritten; sie hatte keine Angst vor
einem Überfall – sie war überzeugt, dass sie unterwegs waren und an einem Ort
Rast machten, den sie einst gekannt hatten. Aber solange das Wasser lief, hatte
sie das Gefühl, dass sie die Stille der Burg oder ihr Dunkel nicht stören
durfte. Noch im Einschlafen glaubte sie, die Soldaten Karls des Großen zu
hören.
    Am Morgen fragte ihr Mann:
›Hast du auch das Wasser laufen hören?‹ Ja, selbstverständlich hatte sie es
gehört. Aber der Brunnen war natürlich trocken, und sie sahen vom Fenster aus,
dass die Blumen nicht abgefressen waren – und jedermann weiß, dass Pferde
Blumen fressen.
    ›Schauen wir nach‹, sagte
ihr Mann. Und er ging mit ihr in den Burghof. ›Keine Hufspuren, kein
Pferdemist. Wir müssen geträumt haben, dass wir Pferde hörten!‹ Sie sagte ihm
nicht, dass auch Soldaten dort gewesen waren und dass es ihrer Meinung nach
unwahrscheinlich war, dass zwei Menschen denselben Traum hatten. Sie erinnerte
ihn auch nicht daran, dass er als starker Raucher [208]  nicht einmal roch, wenn
etwas auf dem Herd kochte; der schwache Pferdegeruch in der kühlen Morgenluft
war zu fein für seine Nase.
    Sie sah oder träumte die
Krieger noch zweimal, während sie dort wohnten, aber ihr Mann erwachte nicht
mehr mit ihr. Es geschah immer ganz plötzlich. Einmal erwachte sie mit dem
Geschmack von Metall im Mund, als hätte sie ein altes, verrostetes Stück Eisen – ein Schwert, einen Brustpanzer, ein Kettenhemd, eine Beinschiene – an die
Lippen geführt. Sie standen wieder dort unten, es war kälter geworden, und sie
waren eingehüllt in dichte Nebelschwaden, die vom Brunnenwasser aufstiegen, auf
den Pferderücken glitzerte Rauhreif. Es waren auch nicht mehr so viele – als
forderten der Winter oder die Scharmützel ihren Tribut. Beim letzten Mal sahen
die Rosse abgemagert aus, und es kam ihr vor, als balancierten sie nur noch
leere Rüstungen auf den Sätteln. Über ihren Nüstern lagen lange Eismasken. Ihr
Atem (oder der der Männer) kam stoßweise.
    »Ihr Mann«, schloss der Mann
mit den Träumen, »sollte an einer Infektion der Atemwege sterben. Aber das
wusste die Frau nicht, als sie diesen Traum träumte.«
    Meine Großmutter blickte von
ihrem Schoß auf und schlug dem Traummann in das bartumschattete Gesicht. Robo
erstarrte auf dem Schoß meines Vaters; meine Mutter fing die Hand ihrer Mutter
ab. Der Sänger schob seinen Stuhl zurück und sprang erschrocken oder
kampfbereit auf, aber der Mann der Träume verbeugte sich nur vor meiner
Großmutter und verließ den düsteren Teesalon. Es war, als hätte er mit Johanna
einen Vertrag [209]  geschlossen, der endgültig war, aber beiden keine Freude
bereitete. Mein Vater schrieb etwas in seinen riesigen Block.
    »Nun, war das eine
Geschichte?«, sagte Herr Theobald. »Ha, ha.« Er fuhr Robo durch die Haare –
etwas, was Robo noch nie hatte ausstehen können.
    »Herr Theobald«, sagte meine
Mutter, die immer noch Johannas Hand festhielt, »mein Vater ist an

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