Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
schreien.
    Mutter zog ihren hübschen
grünen Morgenrock an; Vater zog seinen Bademantel an und setzte seine Brille
auf; ich zog mir eine Hose über meinen Pyjama. Robo war als Erster im Flur. Wir
sahen das Licht, das unter der WC -Tür auf den
Teppich fiel. Drinnen stieß Großmutter rhythmische Schreie aus.
    »Wir sind hier!«, rief ich
ihr zu.
    »Mutter, was ist denn?«,
fragte meine Mutter.
    Wir drängten uns in den
breiten Lichtstreifen. Wir konnten Großmutters malvenfarbene Hausschuhe und
ihre porzellanweißen Knöchel unter der Tür sehen. Sie hörte auf zu schreien.
»Ich habe ein Flüstern gehört, als ich im Bett lag«, sagte sie.
    »Das waren Robo und ich«,
sagte ich zu ihr.
    »Und dann, als ich dachte,
alle wären fort, bin ich [213]  hinüber ins WC gegangen«,
sagte Johanna. »Ich ließ das Licht aus. Es war ganz still«, berichtete sie uns.
»Und dann sah und hörte ich das Rad.«
    »Das Rad?«, fragte Vater.
    »Ein Rad rollte mehrmals an
der Tür vorbei«, sagte Großmutter. »Es rollte vorbei und kam zurück und rollte
wieder vorbei.«
    Vater ließ seine Zeigefinger
wie Räder rechts und links von seinem Kopf kreisen und machte eine Grimasse zu
Mutter hin. »Da braucht jemand ein paar neue Räder«, flüsterte er, aber Mutter
sah ihn nur ärgerlich an.
    »Ich machte das Licht an«,
sagte Großmutter, »und das Rad verschwand.«
    »Ich habe euch ja gesagt,
dass ein Fahrrad im Flur war«, sagte Robo.
    »Halt den Mund, Robo!«,
sagte Vater.
    »Nein, es war kein Fahrrad«,
sagte Großmutter. »Es war nur ein einzelnes Rad.«
    Vater ließ seine Finger
rechts und links von seinem Kopf verrücktspielen. »Bei ihr fehlen ein oder zwei Räder«, tuschelte er meiner Mutter zu. Aber meine Mutter stieß
ihn so heftig an, dass ihm die Brille auf der Nase verrutschte.
    »Dann kam jemand und schaute unter der Tür durch«, sagte Großmutter, »und da habe ich geschrien.«
    »Jemand?«, sagte Vater.
    »Ich sah seine Hände,
Männerhände – er hatte Haare auf den Knöcheln«, sagte Großmutter. »Seine Hände
waren auf dem Teppich gleich draußen vor der Tür. Er muss zu mir hochgeschaut
haben.«
    [214]  »Nein, Großmutter«, sagte
ich. »Ich glaube, er stand einfach nur auf seinen Händen vor der Tür.«
    »Sei nicht so vorlaut«,
sagte meine Mutter.
    »Aber wir haben einen Mann
gesehen, der auf Händen ging«, sagte Robo.
    »Habt ihr nicht«, sagte
Vater.
    »Haben wir doch «, sagte ich.
    »Wir werden noch alle Leute
wecken«, ermahnte uns meine Mutter.
    Die Klosettspülung rauschte,
und Großmutter schlurfte, eines Großteils ihrer einstigen Würde beraubt,
hinaus. Sie trug mehrere Schichten Wäsche übereinander. Ihr Hals ragte lang aus
einem Morgenrock, und ihr Gesicht war weiß eingecremt. Sie sah aus wie eine
verschreckte Gans. »Er war böse und gemein«, sagte sie zu uns. »Er kannte einen
furchtbaren Zauber.«
    »Der Mann, der dich
angeschaut hat?«, fragte Mutter.
    »Der Mann, der meinen Traum
erzählt hat«, sagte Großmutter. Jetzt bahnte sich eine Träne ihren Weg durch
die Cremeschicht in ihrem Gesicht und hinterließ eine Furche. »Es war mein Traum«, sagte sie, »und er hat ihn allen Leuten
erzählt. Gar nicht davon zu reden, wie er ihn überhaupt kennen konnte«, zischte
sie uns an. »Mein Traum – von den Rossen und Soldaten Karls des Großen. Ich bin
die Einzige, die davon wissen durfte. Ich hatte diesen Traum, noch ehe du
geboren wurdest«, sagte sie, zu meiner Mutter gewandt. »Und dieser gemeine böse
Zauberer hat ihn erzählt, als wäre er eine Zeitungsmeldung.
    [215]  Ich habe deinem Vater nie
den ganzen Traum erzählt. Ich war mir nie ganz sicher, ob es wirklich ein Traum
war. Und jetzt laufen hier Männer auf Händen, mit Haaren auf den Knöcheln, und
verzauberte Räder fahren herum. Ich möchte, dass die Jungen bei mir schlafen.«
    So kam es, dass Robo und ich
das große, weit vom WC entfernte Familienzimmer mit
Großmutter teilten, deren eingecremtes Gesicht wie das eines Gespenstes
leuchtete, auf den Kissen meiner Mutter und meines Vaters ruhte. Robo blieb
wach und beobachtete sie. Ich glaube nicht, dass Johanna sehr gut schlief; ich
stelle mir vor, sie träumte wieder ihren Todestraum und durchlebte noch einmal
den letzten Winter der frierenden Soldaten Karls des Großen mit ihren
merkwürdigen reifbedeckten Kettenhemden und ihren eisbedeckten Rüstungen.
    Als ich nicht mehr
ignorieren konnte, dass ich aufs WC musste, folgten
mir Robos weit aufgerissene, glänzende Augen zur

Weitere Kostenlose Bücher