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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Tür.
    Im WC war jemand. Unter der Tür drang kein Licht hervor, aber draußen lehnte ein
Einrad an der Wand. Der Fahrer saß im dunklen WC ;
die Spülung rauschte immer wieder – wie ein Kind ließ der Einradfahrer dem
Wasserkasten keine Zeit, wieder vollzulaufen.
    Ich näherte mich dem breiten
Spalt unter der WC -Tür, aber wer immer drin war, stand
nicht auf seinen Händen. Was ich sah, waren unzweifelhaft Füße, fast in der
erwarteten Stellung, nur dass die Füße nicht den Boden berührten: Ihre Sohlen
zeigten schräg aufwärts zu mir – dunkle, bläulich violette Tatzen. Es waren riesige Füße an kurzen, pelzigen Schienbeinen. Es waren die
Füße [216]  eines Bären, nur dass sie keine Krallen hatten. Ein Bär kann seine
Krallen nicht einziehen wie Katzen; wenn ein Bär also Krallen hätte , würde man sie sehen. Es war also ein Schwindler in
einem Bärenkostüm oder ein Bär mit gezogenen Krallen. Ein domestizierter Bär, vielleicht. Zumindest – nach seinem Aufenthaltsort zu schließen – ein
stubenreiner Bär. Sein Geruch verriet mir außerdem, dass es kein Mann in einem
Bärenkostüm war; es war ein Bär, durch und durch. Ein richtiger Bär.
    Ich wich zurück und prallte
mit dem Rücken gegen die Tür von Großmutters früherem Zimmer, hinter der mein
Vater auf weitere Störungen lauerte. Er riss die Tür auf, und ich fiel, zu
unser beider Schrecken, nach drinnen. Mutter saß aufrecht im Bett und zog sich
die Daunendecke über den Kopf. »Ich hab ihn!«, rief Vater und stürzte sich auf
mich. Der Boden erbebte; das Einrad des Bären geriet ins Rollen und fiel in die
Tür des WC , aus dem jählings der Bär
herausgeschwankt kam; er stolperte über sein Einrad und machte einen Satz, um
das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Besorgt starrte er über den Flur und
durch die offene Tür auf Vater, der auf meiner Brust hockte. Er hob das Einrad
mit den Vordertatzen auf. »Grauf?«, sagte der Bär.
Vater knallte die Tür zu.
    Vom Ende des Flurs her
hörten wir eine Frau rufen: »Duna, wo bist du?«
    »Harf!«, sagte der Bär.
    Vater und ich hörten die
Frau näher kommen. Sie sagte: »O Duna, übst du schon wieder? Fleißig, fleißig.
Immer üben! Aber es ist besser, du übst bei Tag.« Der Bär sagte nichts, Vater
öffnete die Tür.
    [217]  »Lass bloß niemanden
herein«, sagte Mutter unter dem Federbett hervor.
    Im Gang stand eine hübsche,
ältere Frau neben dem Bären, der jetzt, eine riesige Pfote auf der Schulter der
Frau, auf seinem Einrad balancierte. Sie trug einen leuchtend roten Turban und
ein langes Wickelkleid, das an einen Vorhang erinnerte. Auf ihrem üppigen hohen
Busen prangte eine Halskette aus Bärenkrallen; ihre Ohrringe berührten auf der
einen Seite die Schulter ihres Vorhang-Kleids, und auf der anderen, nackten
Schulter zog ein bezauberndes Muttermal meinen und den Blick meines Vaters auf
sich. »Guten Abend«, sagte sie zu Vater. »Es tut mir leid, wenn wir Sie gestört
haben. Duna darf nachts nicht üben – aber er liebt seine Arbeit so.«
    Der Bär brummte etwas und
radelte von der Frau fort. Er hielt die Balance außerordentlich gut, aber er
war zu unbekümmert: Er streifte die Wände des Flurs und stieß mit den Pfoten an
die alten Fotografien der Eisschnellläufermannschaften. Die Frau verneigte sich
vor Vater, ging mit dem Ruf »Duna, Duna!« hinter dem Bären her und rückte die
alten Fotografien wieder gerade, während sie ihm durch den Flur folgte.
    »Duna ist das ungarische
Wort für Donau«, erklärte mir mein Vater. »Dieser Bär ist nach unserer schönen
blauen Donau benannt worden.« Manchmal schien es
meine Familie zu überraschen, dass auch die Ungarn einen Fluss lieben konnten.
    »Ist der Bär ein richtiger
Bär?«, fragte meine Mutter, die immer noch mit dem Kopf unter dem Federbett
steckte. Aber ich überließ es Vater, ihr alles zu erklären. [218]  Ich wusste, dass
Herr Theobald am Morgen eine Menge zu erklären haben würde, und dann würde ich
alles noch einmal hören.
    Ich ging über den Flur zum WC hinüber. Wegen des Geruchs und der von mir überall
vermuteten Bärenhaare beeilte ich mich. Die Haare waren allerdings wirklich nur
eine Vermutung, denn der Bär hatte alles sehr ordentlich hinterlassen – oder
zumindest sehr sauber für einen Bären.
    »Ich habe den Bären
gesehen«, flüsterte ich Robo zu, als ich wieder in unserem Zimmer war, aber
Robo war unter Großmutters Decke gekrochen und neben ihr eingeschlafen. Die
alte Johanna war jedoch

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