Garp und wie er die Welt sah
bremsen. Er kam mit dem Rad zu nahe an den Bordstein und
wurde gegen den Kotflügel eines parkenden Autos geschleudert. Er saß auf dem
Bürgersteig, neben sich das Einrad; augenscheinlich nicht ernsthaft verletzt,
aber er sah sehr verlegen aus, und niemand lachte.
»O Duna«, schalt die
Schwester, aber sie ging zu ihm und hockte sich neben ihn. »Duna, Duna«,
tadelte sie ihn zärtlich. Er schüttelte seinen großen Kopf; er wollte sie nicht
ansehen. Im Fell unter seinem Maul hing ein bisschen Speichel, und sie wischte
ihn mit der Hand weg. Er stieß ihre Hand mit seiner Tatze fort.
»Beehren Sie uns bitte
wieder!«, rief Herr Theobald kläglich, als wir in unser Auto stiegen.
Mutter saß mit geschlossenen
Augen da und massierte sich mit den Fingern die Schläfen – so hörte sie
angeblich nichts von dem, was wir sagten. Sie behauptete immer, es sei ihr
einziger Schutz beim Reisen mit einer so zänkischen Familie.
Mir war nicht danach, wie
sonst üblich über die Betreuung des Wagens zu berichten, aber ich sah, dass
mein Vater bemüht war, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten; er hatte den
riesigen Block auf seinen Knien zurechtgelegt, als hätten wir gerade eine
normale, routinemäßige Inspektion abgeschlossen. »Was sagt der
Kilometerzähler?«, fragte er.
»Irgendjemand ist
fünfunddreißig Kilometer mit dem Wagen gefahren«, sagte ich.
»Dieser schreckliche Bär ist
hier drinnen gewesen«, [248] sagte Großmutter. »Auf dem Rücksitz sind Haare von
der Bestie, und außerdem rieche ich ihn.«
»Ich rieche nichts«, sagte
Vater.
»Und das Parfüm dieser
Zigeunerin mit dem Turban«, fuhr Großmutter fort. »Es hängt unter dem
Wagendach.« Vater und ich schnupperten. Mutter massierte sich noch immer die
Schläfen.
Auf dem Boden neben dem
Brems- und dem Kupplungspedal sah ich mehrere der minzgrünen Zahnstocher, die
der ungarische Sänger immer im Mundwinkel hatte, so dass es aussah wie eine
Narbe. Ich erwähnte sie nicht. Schlimm genug, sie sich alle vorzustellen – bei
einem Ausflug aufs Land, mit unserem Auto. Der singende Fahrer, neben ihm der
Mann auf Händen – der mit den Füßen aus dem Fenster winkte. Und hinten,
zwischen dem Mann mit den Träumen und seiner ehemaligen Frau – mit dem großen
Kopf an das gepolsterte Wagendach stoßend, die gewaltigen Tatzen in den breiten
Schoß gelegt –, fläzte sich der alte Bär wie ein gutmütiger Betrunkener.
»Diese armen Menschen«,
sagte Mutter, noch immer mit geschlossenen Augen.
»Lügner und Kriminelle!«,
sagte Großmutter. »Zauberer und Flüchtlinge und verwahrloste Tiere!«
»Sie haben sich alle Mühe
gegeben«, sagte Vater, »aber selbst dann ist mit ihnen kein Blumentopf zu
gewinnen.«
»Sie gehören in einen Zoo«,
sagte Großmutter.
»Ich fand es sehr lustig«,
sagte Robo.
»Es ist schwer, aus der
Klasse C herauszukommen«, sagte ich.
[249] »Sie sind längst jenseits
von Z«, sagte die alte Johanna. »Sie sind aus dem menschlichen Alphabet verschwunden.«
»Ich denke, die
Angelegenheit erfordert einen Brief«, sagte Mutter.
Aber Vater hob die Hand –
als wollte er uns segnen –, und wir schwiegen. Er schrieb in seinen riesigen
Block und wünschte, nicht gestört zu werden. Sein Gesicht war ernst. Ich wusste,
dass Großmutter keine Sekunde daran zweifelte, wie sein Urteil ausfallen würde.
Mutter wusste, dass Einwände nutzlos waren. Robo langweilte sich bereits. Ich
manövrierte uns durch die schmalen Straßen durch die Spiegelgasse zum
Lobkowitzplatz. Die Spiegelgasse ist so schmal, dass man das eigene Auto in den
Schaufenstern der Geschäfte noch einmal fahren sieht, und ich hatte das Gefühl,
unsere Fahrt durch Wien sei davon gewissermaßen überlagert – wie durch einen
Trick mit einer Filmkamera, als machten wir eine Märchenreise durch eine
Spielzeugstadt.
Als Großmutter im Auto
eingeschlafen war, sagte Mutter: »Ich nehme nicht an, dass in diesem Fall eine
Änderung der Klassifizierung einen Unterschied machen würde – so oder so.«
»Nein«, sagte Vater, »keinen
sehr großen.« Damit hatte er recht, wenn es auch noch Jahre dauern sollte, bis
ich die Pension Grillparzer wiedersah.
Als Großmutter ziemlich
plötzlich – im Schlaf – starb, verkündete Mutter, dass sie das Reisen leid sei.
Der wahre Grund jedoch war, dass sie jetzt auch von [250] Großmutters Traum
heimgesucht wurde. »Die Pferde sind so mager«, erzählte sie mir einmal.
»Verstehst du, ich habe immer gewusst, dass sie mager sein würden,
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