Garp und wie er die Welt sah
Einzige von
euch, der sich nie über mich lustig macht«, sagte der Mann, der nur auf seinen
Händen gehen konnte.
»Ich würde gern möglichst
schnell fort von hier«, sagte Großmutter. »Dies alles ist ganz und gar
scheußlich für mich.«
»Bitte, verehrte Dame«,
sagte Herr Theobald, »wir wollten Ihnen nur zeigen, dass wir es nicht böse
gemeint haben. Es sind schwere Zeiten. Ich brauche die Einstufung in die Klasse
B, um mehr Touristen anzulocken, und bei meiner Seele, ich kann den Zirkus
Szolnok nicht einfach rauswerfen.«
» Bei
seiner Seele, so ein Schmarrn«, sagte der Mann mit den Träumen. »Er hat
Angst vor seiner Schwester. Er würde nicht im Traum daran denken, uns
rauszuwerfen.«
»Wenn er im Traum daran
dächte, würden wir es wissen!«, rief der Mann auf Händen.
»Ich habe Angst vor dem Bären «, sagte Herr Theobald. »Das Biest tut alles, was sie
ihm sagt.«
»Sag nicht ›das Biest‹«,
sagte der Mann auf Händen. »Er ist ein guter Bär, und er hat noch keinem
Menschen etwas zuleide getan. Du weißt genau, dass er keine Krallen mehr hat
und nur noch wenige Zähne.«
»Der Arme hat furchtbare
Schwierigkeiten beim Fressen«, gab Herr Theobald zu. »Er ist schon ziemlich alt
und ganz schön durcheinander.«
[245] Ich blickte meinem Vater
über die Schulter, um zu sehen, was er in seinen riesigen Block schrieb. »Ein
deprimierter Bär und ein arbeitsloser Zirkus. Die zentrale Gestalt der Familie
ist die Schwester.«
In diesem Augenblick sahen
wir sie auf dem Bürgersteig mit dem Bären arbeiten. Es war früh am Morgen, und
die Straße war nicht sehr belebt. Natürlich hatte sie den Bären, wie es das
Gesetz verlangte, an der Leine, aber das war eine bloße Formsache. Mit ihrem
aufsehenerregenden roten Turban folgte die Frau den trägen Bewegungen des Bären
auf seinem Einrad, den Bürgersteig hinauf und hinunter. Der Bär radelte gewandt
von einer Parkuhr zur nächsten und stützte sich manchmal mit der einen Tatze
ab, um zu wenden. Er war sehr geschickt auf dem Einrad, das sah man, aber man
sah auch, dass das Einrad keine Zukunft für ihn hatte: Der Bär spürte, er würde
mit dem Einradfahren über einen bestimmten Punkt nicht hinauskommen.
»Sie sollte ihn allmählich
von der Straße schaffen«, meinte Herr Theobald besorgt. »Die Leute von der
Konditorei nebenan beschweren sich bei mir«, erklärte er uns. »Sie sagen, der
Bär vertreibe ihre Kunden.«
»Der Bär lockt die Kunden an !«, sagte der Mann auf Händen.
»Manche Leute lockt er an,
andere vertreibt er«, sagte der Mann mit den Träumen. Er wirkte plötzlich
schwermütig, als hätte seine eigene Tiefgründigkeit ihn deprimiert.
Alle waren wir so mit den
Possen des Zirkus Szolnok beschäftigt, dass wir darüber die alte Johanna ganz [246] vergessen
hatten. Als meine Mutter sah, dass Großmutter lautlos vor sich hin weinte, bat
sie mich, den Wagen vorzufahren.
»Es war zu viel für sie«,
flüsterte mein Vater Herrn Theobald zu. Die Mitglieder des Zirkus Szolnok
blickten betroffen vor sich hin.
Draußen auf dem Bürgersteig
kam mir der Bär entgegengeradelt und überreichte mir die Schlüssel; der Wagen
stand am Bordstein. »Nicht jeder lässt sich die Schlüssel gern auf solche Weise
geben«, erklärte Herr Theobald seiner Schwester.
»Oh, ich dachte, es würde
ihm gefallen«, sagte sie und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Sie war so
reizvoll wie ein Barmädchen, mit anderen Worten: Sie war nachts reizvoller. Im
hellen Tageslicht sah ich, dass sie sogar noch älter war als ihr Bruder und
auch älter als ihre Ehemänner – und im Laufe der Zeit, stellte ich mir vor,
würde sie aufhören, ihnen eine Geliebte beziehungsweise eine Schwester zu sein,
und würde eine Mutter für sie alle werden. Für den Bären war sie bereits eine
Mutter.
»Komm her«, sagte sie zu
ihm. Er rollte lustlos auf der Stelle vor und zurück, die eine Tatze auf einer
Parkuhr. Er leckte an der kleinen Scheibe der Uhr. Sie zog an der Leine. Er
starrte sie an. Sie zog wieder. Der Bär begann, übermütig umherzuradeln, zuerst
in die eine, dann in die andere Richtung. Es war, als sei mit dem Publikum auch
sein Interesse erwacht. Er begann anzugeben.
»Mach keine Dummheiten«,
sagte die Schwester zu ihm, aber der Bär radelte immer schneller, vorwärts,
rückwärts, fuhr scharfe Kurven und sauste zwischen den [247] Parkuhren hindurch;
die Schwester musste die Leine loslassen. »Duna, hör auf!«, rief sie, aber der
Bär war nicht mehr zu
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