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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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heiraten.
    [238]  Als er Die
Pension Grillparzer beendet hatte, verkündete er seiner Mutter, er wolle
nach Hause fahren und Helen sehen; er werde ihr eine Kopie der Erzählung
schicken – dann hätte sie sie bei seiner Ankunft bereits gelesen. Arme Helen,
dachte Jenny, die wusste, dass Helen auch so schon viel zu lesen hatte.
Außerdem fand sie es beunruhigend, dass Garp von Steering als von »zu Hause«
gesprochen hatte. Sie wollte jedoch, wenngleich aus anderen Gründen, Helen
ebenfalls gern sehen, und Ernie Holm würde nichts dagegen haben, wenn sie ihm
ein paar Tage Gesellschaft leisteten. Und falls Garp und Jenny sich länger
irgendwo erholen und Pläne schmieden wollten, gab es ja immer noch ihr
Elternhaus in Dog’s Head Harbor.
    Garp und Jenny waren so sehr mit
sich selbst beschäftigt, dass sie keinen Augenblick innehielten, um sich
Gedanken zu machen, warum sie so wenig von Europa gesehen hatten. Nun reisten
sie ab. Jenny packte ihre Schwesterntrachten ein. Garp jedoch hatte die Gunst
nicht vergessen, die Charlotte an Tina delegiert hatte.
    Seine Phantasien über diese
Gunstbezeigungen hatten ihm beim Schreiben geholfen, doch wie er sein Leben
lang lernen sollte, sind beim Schreiben und im wirklichen Leben die Bedürfnisse
nicht immer die gleichen. Seine Phantasie hatte ihm geholfen, während er
schrieb; jetzt, wo er nicht schrieb, wollte er Tina.
Er suchte sie in der Kärntner Straße, aber die Mayonnaiseglashure, die Englisch
sprach, erzählte ihm, dass Tina den ersten Bezirk verlassen hatte.
    »So ist das Leben«, sagte Wanga.
»Vergessen Sie Tina.«
    Garp stellte fest, dass er sie
vergessen konnte; die Lust, wie seine Mutter es
nannte, war in dieser Hinsicht [239]  unberechenbar. Und die Zeit, entdeckte er,
hatte seine Abneigung gegen Wangas Mayonnaiseglaslippe gemildert; plötzlich
gefiel sie ihm sogar. Also nahm er sie, zweimal, und wie er auch sein Leben
lang lernen sollte: Nachdem ein Schriftsteller etwas zu Ende geschrieben hat,
ist fast alles im Leben eine Enttäuschung.
    Garp und Jenny hatten fünfzehn
Monate in Wien verbracht. Es war September. Garp und Helen waren erst neunzehn,
und Helen würde sehr bald wieder aufs College gehen. Das Flugzeug flog von Wien
nach Frankfurt. Das leichte Prickeln (das Wanga war) wich langsam aus Garps
Fleisch. Wenn er an Charlotte dachte, stellte er sich vor, dass Charlotte
glücklich gewesen war. Immerhin hatte sie den ersten Bezirk nie verlassen
müssen.
    Auf dem Weiterflug nach London
las Garp Die Pension Grillparzer noch einmal durch
und hoffte, dass Helen ihn nicht abweisen würde. Auf dem Flug von London nach
New York war dann Jenny dran, die Erzählung ihres Sohnes zu lesen. Gegenüber
dem, woran sie über ein Jahr gesessen hatte, kam Garps Geschichte ihr ziemlich
unwirklich vor. Aber ihr Sinn für Literatur war nie sehr ausgeprägt gewesen,
und sie staunte über die Phantasie ihres Sohnes. Später sollte sie sagen, Die Pension Grillparzer sei genau die Art Geschichte, die
man von einem Jungen ohne richtige Familie erwarten würde.
    Schon möglich. Helen sollte
später sagen, der Schluss der Pension Grillparzer gebe dem Leser schon einen Vorgeschmack auf die Welt, wie Garp sie sah.
    [240]  DIE PENSION GRILLPARZER
   [Schluss]
    Im Frühstückszimmer der
Pension Grillparzer konfrontierten wir Herrn Theobald mit der Menagerie seiner
anderen Gäste, die unseren Abend gesprengt hatten. Ich wusste, dass mein Vater
(zum ersten Mal) vorhatte, sich als Spion des Fremdenverkehrsamts zu erkennen
zu geben.
    »Männer, die auf Händen
herumspazieren«, sagte Vater.
    »Männer, die unter der WC -Tür hindurchspähen«, sagte Großmutter.
    » Dieser Mann«, sagte ich und zeigte auf den kleinen mürrischen Burschen, der mit seinen
Kumpanen – dem Mann mit den Träumen und dem ungarischen Sänger – am Ecktisch
auf das Frühstück wartete.
    »Er tut es, um seinen
Lebensunterhalt zu verdienen«, sagte Herr Theobald, und wie um uns zu
demonstrieren, dass es sich tatsächlich so verhielt, begann der Mann, der auf
seinen Händen stand, auf seinen Händen zu stehen.
    »Er soll damit aufhören«,
sagte mein Vater. »Wir wissen, dass er es kann.«
    »Aber wussten Sie auch, dass
er es nicht anders kann?«, mischte sich der Mann mit
den Träumen ein. »Wussten Sie, dass seine Beine nutzlos sind? Er hat keine
Schienbeine. Es ist wunderbar, dass er auf Händen
gehen kann! Sonst würde er überhaupt nicht gehen können.« Der Mann nickte, was
fraglos keine leichte Übung

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