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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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veröffentlichte, sollte derselbe Redakteur von Tinchs
Lieblingszeitschrift einen Brief an Garp schreiben – einen für Garp und seine
Arbeit sehr schmeichelhaften Brief – und Garp bitten, irgendetwas Neues, was er geschrieben habe, zu schicken. Aber T.S.
Garp hatte ein gutes Gedächtnis und konnte böse sein wie ein Dachs. Er fand den
alten Ablehnungsbrief, in dem seine Grillparzer -Geschichte
als »nur mäßig interessant« bezeichnet worden war; der Brief war voller
Kaffeeflecken und vom vielen Zusammenfalten an den Falzstellen schon brüchig,
doch Garp legte ihn trotzdem seinem Brief an den Redakteur von Tinchs
Lieblingszeitschrift bei. Garps Brief lautete:
    Ich bin
an Ihrer Zeitschrift nur mäßig interessiert, und ich biete sprachlich oder
formal immer noch nichts Neues. Trotzdem vielen Dank, dass Sie mich gebeten
haben.
    Garp hatte ein überzogenes
Selbstbewusstsein und konnte entsetzlich nachtragend sein, wenn er in seiner
Eitelkeit gekränkt oder seine Arbeit nicht gebührend gewürdigt wurde. Dass sie
gleichfalls über ein solides Selbstbewusstsein verfügte, war ein Segen für
Helen, denn sonst hätte sie ihren Mann am Ende gehasst. So hatten sie beide
Glück. Viele Paare leben zusammen und entdecken erst mit der Zeit, dass sie
sich nicht lieben; manche Paare merken es nie. [257]  Andere heiraten, und es wird
ihnen in den unpassendsten Augenblicken ihres Lebens bewusst, dass sie sich
ineinander getäuscht haben. Garp und Helen kannten einander bei ihrer Heirat
zwar kaum, aber sie verließen sich auf ihre Intuition – und verliebten sich auf
ihre eigensinnige, bewusste Art irgendwann nach der Hochzeit ineinander.
    Vielleicht nahmen sie ihre
Beziehung deshalb nicht allzu genau unter die Lupe, weil sie so sehr mit ihren
einzigartigen Karrieren beschäftigt waren. Helen sollte ihren College-Abschluss
nach zwei Jahren statt nach drei machen, mit dreiundzwanzig hatte sie ihren
Doktor in englischer Literatur und mit vierundzwanzig ihre erste Stelle – eine
Dozentur an einem Mädchencollege. Garp sollte fünf Jahre brauchen, um seinen
ersten Roman zu beenden, aber es wurde ein guter Roman und erhielt für einen
Erstling eines Jungschriftstellers viel Lob, verkaufte sich aber kaum.
Inzwischen verdiente Helen genug Geld. Doch während Helen noch studierte und
Garp schrieb, kam Jenny für den Unterhalt des Paares auf.
    Jennys Buch war für Helen bei der
ersten Lektüre ein größerer Schock als für Garp – der schließlich bei seiner
Mutter aufgewachsen war und den ihre exzentrische Art nicht überraschte, weil
er nichts anderes gewöhnt war. Ein Schock für ihn war vielmehr der Erfolg des
Buches. Er hatte nicht damit gerechnet, eine Figur des öffentlichen Lebens –
und eine Hauptfigur im Buch eines anderen Schriftstellers – zu werden, bevor er
selbst als Schriftsteller hervorgetreten war.
    Der Verleger, John Wolf, würde
nie den Morgen in seinem Büro vergessen, an dem er Jenny Fields kennenlernte.
    [258]  »Da ist eine Krankenschwester,
die Sie sprechen möchte«, sagte seine Sekretärin und verdrehte die Augen – als
drohte ihrem Chef ein Vaterschaftsprozess. John Wolf und seine Sekretärin
konnten nicht wissen, dass Jennys Handkoffer wegen des 1158-seitigen
Typoskripts so schwer war.
    »Es ist über mich«, erklärte sie
John Wolf, während sie ihren Handkoffer öffnete und das Monstermanuskript auf
seinen Schreibtisch wuchtete. »Wann können Sie es lesen?« John Wolf hatte den
Eindruck, als habe die Frau vor, so lange in seinem Büro zu warten, bis er es
ausgelesen hätte. Er warf einen Blick auf den ersten Satz (»In dieser Welt mit
ihrer schmutzigen Phantasie…«) und dachte: O Mann, wie werde ich die bloß wieder los?
    Später geriet er dann allerdings
in Panik, als er keine Telefonnummer fand, unter der er sie erreichen konnte;
als er ihr sagen wollte, ja! – das würden sie
bestimmt herausbringen!, konnte er schließlich nicht wissen, dass Jenny Fields
für ein paar Tage bei Ernie Holm in Steering wohnte, wo sie bis in die Nacht
hinein redeten, jede Nacht (die übliche elterliche Sorge, wenn Eltern
feststellen, dass ihre neunzehnjährigen Kinder unbedingt heiraten wollen).
    »Wo gehen sie bloß jeden Abend
hin?«, fragte Jenny. »Sie kommen immer erst gegen zwei oder drei Uhr zurück,
und gestern Nacht hat es geregnet, und zwar die ganze Nacht, und sie haben
nicht einmal ein Auto.«
    Die beiden gingen in den
Ringerraum. Helen hatte natürlich einen Schlüssel. Und eine Ringermatte war

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