Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
und das waren immer die hoffnungslosen Fälle. Es gab die
üblichen älteren Patienten, die an den üblichen Schläuchen hingen; es gab die
üblichen Arbeitsunfälle und Autounfälle und die schrecklichen Unfälle von
Kindern. Aber hauptsächlich waren Soldaten auf der Station. Was ihnen
widerfuhr, war kein Unfall.
    Jenny unterteilte die
Nichtunfälle, die den Soldaten widerfuhren, auf ihre eigene Weise und erfand
ihre eigenen Kategorien für sie.
    1. Männer mit Verbrennungen;
die meisten hatten sich die Verbrennungen an Bord eines Schiffes zugezogen (die
kompliziertesten Fälle kamen vom Chelsea Naval Hospital), manche aber auch in
Flugzeugen oder am Boden. Jenny nannte sie »die Äußerlichen«.
    2. Männer mit Schusswunden
oder Verletzungen an [32]  gefährlichen Stellen; sie hatten innere Schwierigkeiten, und Jenny nannte sie »die lebenswichtigen
Organe«.
    3. Männer, deren
Verletzungen Jenny beinahe mystisch vorkamen; es waren Männer, die nicht mehr
»da« waren, deren Köpfe oder Wirbelsäulen irgendwie in Mitleidenschaft gezogen
waren. Manchmal waren sie gelähmt, manchmal dämmerten sie einfach dahin. Jenny
nannte sie »die Abwesenden«. Manchmal hatte einer der Abwesenden auch
äußerliche Verletzungen oder Schäden an lebenswichtigen Organen; das ganze
Krankenhaus hatte einen Namen für sie:
    4. Sie waren »die
Halbtoten«.
    »Mein Vater«, schrieb Garp,
»war ein ›Halbtoter‹. Das muss ihn für meine Mutter sehr attraktiv gemacht
haben. Ohne Haken und Ösen.«
    Garps Vater hatte als
Kugelturmschütze am Himmel über Frankreich einen dieser Unfälle gehabt, die
keine waren.
    »Der Kugelturmschütze«, schrieb
Garp, »war das Mitglied der Bomberbesatzung, das dem vom Boden kommenden
Flugabwehrfeuer am meisten ausgesetzt war. Dieses Feuer hieß Flak;
Flakgeschosse sahen für den Kugelturmschützen oft wie hochgeschleuderte
Tintentropfen aus, die sich am Himmel ausbreiteten, als wäre der Himmel ein
Blatt Löschpapier. Der kleine Mann (denn wenn er klein war, passte er besser in
den unteren Geschützturm hinein) kauerte mit seinen Maschinengewehren in seinem
beengten Nest – einem Kokon, in dem er einem in
Plexiglas gegossenen Insekt glich. Der Geschützturm war eine Metallkugel [33]  mit
einem gläsernen Bullauge; er saß wie ein aufgeblähter Nabel am Rumpf einer
B-17, wie eine Zitze am Bauch des Bombers. In dieser winzigen Kuppel waren zwei
Maschinengewehre und jener kleine, schmale Mann, der auf Jagdflugzeuge, die
seinen Bomber angriffen, zielen sollte. Wenn sich der Geschützturm bewegte,
drehte sich der Turmschütze mit. In dem Turm befanden sich Holzgriffe mit
Knöpfen daran, um mit den Maschinengewehren zu feuern. Wenn er die Abzugshebel
umklammert hielt, sah der Kugelturmschütze wie ein gefährlicher Fötus aus, der
in der widersinnig exponierten Fruchtblase des Bombers hing und seine Mutter
schützte. Mit den Griffen konnte man auch den Geschützturm steuern, aber nur
bis zu einem bestimmten Punkt, damit der Turmschütze nicht die Propeller vorne
abschoss. »Da der Himmel unter ihm war, muss sich der
Turmschütze besonders ausgesetzt vorgekommen sein, wie ein Appendix. Bei der
Landung wurde der Geschützturm eingefahren – normalerweise. Ein nicht eingefahrener Geschützturm
schlug unweigerlich Funken auf der alten Piste – wie ein herunterhängendes Auspuffrohr eines Autos auf der Straße.«
    Technical Sergeant Garp, der
»halbtote« Schütze, dessen Vertrautheit mit dem gewaltsamen Tod jeder
Beschreibung spottet, diente bei der Achten Luftflotte – der Luftflotte, die von England aus den Kontinent bombardierte. Sergeant Garp
hatte bereits Erfahrung als Bugschütze in der B -17 C und als Rumpfschütze im mittleren Teil der B -17 E , bevor sie ihn zum
Kugelturmschützen machten.
    Garp mochte die Bordgeschütze im
mittleren Teil der B -17 E nicht. Dort mussten sich zwei Seitenschützen in den [34]  Rumpf des Bombers
zwängen: Ihre Fenster lagen einander gegenüber, und Garp bekam jedes Mal mit
dem Ellbogen einen Schlag ans Ohr, wenn sein Kamerad sein MG in dem Augenblick schwenkte, in dem Garp sich mit
seinem bewegte. Aus genau diesem Grund waren in späteren Modellen die Fenster
der Rumpfschützen versetzt angeordnet. Doch diese Neuerung kam für Sergeant
Garp zu spät.
    Sein erster Feindflug war ein
Tageseinsatz auf einer B -17 E s
gegen Rouen am 17. August 1942, bei dem es keine Verluste gab. Technical
Sergeant Garp bekam von seinem Kameraden einen Schlag ans linke und zwei

Weitere Kostenlose Bücher