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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einzuordnen.
Er war eindeutig ein »Abwesender«, fügsamer als ein Kind, aber sie wusste nicht
genau, was ihm sonst noch alles fehlte.
    [40]  »Hallo. Wie geht es Ihnen?«,
fragte sie ihn, als man ihn – er grinste – auf die Station schob.
    »Garp!«, entfuhr es ihm. Der
Oculomotorius war teilweise wiederhergestellt, und seine Augen hüpften jetzt
eher, als dass sie sich verdrehten, aber seine Hände steckten in Gazefäustlingen – Garp hatte mit dem Feuer gespielt, das in der
Krankenstation des Truppentransportschiffs ausgebrochen war. Er hatte die
Flammen gesehen und die Hände nach ihnen ausgestreckt und einige Flammen zu
seinem Gesicht hochgewedelt. Dabei hatte er sich die Augenbrauen versengt. Auf
Jenny wirkte er wie eine rasierte Eule.
    Mit den Verbrennungen war Garp
gleichzeitig ein »Äußerlicher« und ein »Abwesender«. Außerdem konnte er, da
seine Hände dick verbunden waren, nicht mehr masturbieren, was er, wie aus
seinem Krankenblatt hervorging, häufig und mit Erfolg – und ohne jede Befangenheit – getan hatte.
Diejenigen, die ihn seit seinem Unfall bei dem Schiffsbrand genauer beobachtet
hatten, fürchteten, der kindliche Bordschütze werde in Depressionen versinken – weil ihm sein einziges Erwachsenenvergnügen genommen
war, wenigstens, bis seine Hände verheilten.
    Es war natürlich möglich, dass
Garp auch Schäden an »lebenswichtigen Organen« davongetragen hatte. Viele
Splitter waren in seinen Kopf eingedrungen; etliche steckten an zu heiklen
Stellen, als dass man sie hätte entfernen können. Womöglich war nicht nur sein
Gehirn durch die rabiate Lobotomie beschädigt; womöglich schritt die Zerstörung
in seinem Inneren fort.
    »Unser allgemeiner Verfall«,
schrieb Garp, »ist auch [41]  ohne Flakeinwirkung auf unseren Organismus schon
kompliziert genug.«
    Vor Sergeant Garp hatte es schon
einmal einen Patienten mit ähnlich vielen Splittern im Schädel gegeben.
Monatelang war es ihm gutgegangen – nur dass er Selbstgespräche führte und gelegentlich ins Bett pinkelte. Dann
fielen ihm plötzlich die Haare aus, und er brachte seine Sätze nicht mehr zu
Ende. Kurz vor seinem Tod waren ihm weibliche Brüste gewachsen.
    Die Schatten und die weißen
Nadeln auf den Röntgenbildern und alle anderen Anzeichen sprachen dafür, dass
der Turmschütze Garp wahrscheinlich ein »Halbtoter« war. Aber in Jenny Fields’
Augen sah er sehr nett aus. Der ehemalige Kugelturmschütze, ein kleiner,
properer Mann, war so unschuldig und geradeheraus in seinen Bedürfnissen wie
ein Zweijähriger. Er rief »Garp!«, wenn er Hunger hatte, und »Garp!«, wenn er
sich freute; er fragte »Garp?«, wenn ihn etwas verwirrte oder wenn er sich an
Fremde wandte, und er sagte »Garp« ohne Fragezeichen, wenn er einen
wiedererkannte. Meistens machte er, was man ihm sagte, aber es war kein Verlass
auf ihn; er vergaß leicht, konnte manchmal so folgsam sein wie ein
Sechsjähriger und war ein andermal so unbekümmert neugierig, als wäre er erst
anderthalb.
    Die Depressionen, die in seinen
Begleitpapieren genau dokumentiert waren, schienen zeitlich mit seinen
Erektionen zusammenzufallen. In diesen Augenblicken klemmte er seinen armen
erwachsenen Peter zwischen seine gazigen, in Fäustlinge gehüllten Hände und
weinte. Er weinte, weil die Gaze sich nicht so gut anfühlte wie die kurze [42]  Erinnerung
an seine Hände und weil ihm die Hände weh taten, wenn er etwas berührte. In
solchen Augenblicken setzte sich Jenny Fields zu ihm. Sie massierte ihm den
Rücken zwischen den Schulterblättern, bis er den Kopf wie eine Katze in den
Nacken legte, und redete unablässig mit einer freundlichen Stimme voll
lebhafter Modulationen auf ihn ein. Die meisten Schwestern leierten ihren
Patienten etwas vor – mit einer gleichmäßigen, monotonen
Stimme, die einschläfernd wirken sollte. Aber Jenny wusste, dass Garp etwas
anderes brauchte als Schlaf. Sie wusste, dass er noch ein Baby war und sich
langweilte – er brauchte ein bisschen Ablenkung.
Also lenkte Jenny ihn ab. Sie stellte ihm das Radio an, aber manche Sendungen
regten Garp auf – niemand wusste, warum. Andere lösten
bei ihm gewaltige Erektionen aus, die wiederum zu Depressionen führten, und so
fort. Eine Sendung, nur eine einzige, schenkte Garp einen feuchten Traum, der
ihn so überraschte und erfreute, dass er immer darauf brannte, das Radio zu sehen. Aber Jenny konnte die Sendung nicht wiederfinden,
die Sache ließ sich nicht wiederholen. Sie wusste, wenn sie den

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