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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Er äffte den
Piloten nach wie ein gelehriger Papagei oder eine Krähe. »Garp«, sagte Garp,
als hätte er das Wort gerade neu gelernt. Der Pilot nickte Garp zu, als wollte
er ihn ermuntern, sich seinen Namen zu merken. Garp lächelte. »Garp«, sagte er.
Offenbar dachte er, dass man sich so begrüßte. Nicht guten Tag, guten Tag – sondern Garp, Garp!
    »Du liebe Güte, Garp«, sagte der
Pilot. Im Bullauge des Geschützturms waren ein paar Löcher und Risse zu sehen
gewesen. Der Arzt öffnete jetzt den Reißverschluss am Seitenfenster der
Beiwagenhaube und sah Garp in die Augen. Irgendetwas stimmte nicht mit Garps
Augen: Sie verdrehten sich unabhängig voneinander. Wahrscheinlich, dachte der Arzt,
fuhr für Garp die Welt Karussell – falls Garp
überhaupt noch etwas sehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnten der Pilot und
der Arzt noch nicht wissen, dass bei der Explosion der Granate ein paar scharfe
Splitter den Nervus oculomotorius in Garps Gehirn – und nicht nur diesen Teil seines Gehirns – beschädigt hatten. Der Oculomotorius besteht hauptsächlich aus motorischen
Fasern, die die Muskulatur des Augapfels mit Nervenreizen versorgen. Davon
abgesehen hatte Garps Gehirn einige Schnitte und Stiche abbekommen, die stark
an eine – wenn auch ziemlich verpfuschte – präfrontale Lobotomie erinnerten.
    Weil sich der Arzt große Sorgen
machte, wie pfuscherhaft die Lobotomie an Sergeant
Garp ausgefallen war, [38]  beschloss er, die blutgetränkte Fliegermütze nicht abzunehmen,
die an Garp klebte und ihm in die Stirn hing, wo sie auf einer dicken,
glänzenden Beule auflag, die sich jetzt dort bildete. Alle hielten Ausschau
nach dem Fahrer des Arztes, aber der Fahrer war weg, er übergab sich irgendwo,
und der Arzt sagte sich, dass er jemanden finden musste, der sich zu Garp in
den Beiwagen setzte, während er selbst das Motorrad steuerte.
    »Garp?«, sagte Garp zu dem Arzt,
um sein neues Wort auszuprobieren.
    »Garp«, bestätigte der Arzt. Garp
schien erfreut. Mit beiden kleinen Händen an seinem eindrucksvoll erigierten
Penis hatte das Masturbieren schließlich Erfolg.
    »Garp!«, entfuhr es ihm. In
seiner Stimme schwangen Freude, aber auch Überraschung mit. Er verdrehte die
Augen zu seinem Publikum und flehte die Welt an, vor ihm zu erscheinen und
stillzustehen. Er wusste nicht recht, was er gemacht hatte. »Garp?«, fragte er
voller Zweifel.
    Der Pilot tätschelte seinen Arm
und nickte den anderen Männern von der Flug- und Bodencrew zu, als wollte er
sagen: Kommt, Leute, wir helfen dem Sergeant ein bisschen. Er soll sich wie zu
Hause fühlen. Und in ehrfürchtigem Respekt vor Garps Ejakulation sagten die
Männer alle »Garp! Garp! Garp!« zu ihm – ein beruhigender Robbenchor, bemüht, Garp zu besänftigen.
    Garp nickte glücklich, aber der
Arzt fasste ihn am Arm und flüsterte ihm besorgt zu: »Nein! Nicht den Kopf
bewegen, okay, Garp? Bewegen Sie bitte nicht den Kopf!« Garps Augen wanderten
an dem Piloten und dem Arzt vorbei, die darauf warteten, dass sie wieder zu
ihnen [39]  zurückkamen. »Tun Sie gar nichts, Garp«, flüsterte der Pilot. »Einfach
nur stillsitzen, okay?«
    Garps Gesicht strahlte reinen
Frieden aus. Mit seinen beiden Händen, die seinen erschlaffenden Penis hielten,
wirkte der kleine Sergeant, als hätte er genau das getan, was die Situation erforderte.
    In England konnte man nichts für
Sergeant Garp tun. So hatte er das Glück, dass er lange vor Kriegsende nach
Boston heimtransportiert wurde. Im Grunde hatte er das irgendeinem Senator zu
verdanken. In einem Leitartikel einer Bostoner Zeitung hatte es geheißen, die US -Navy bringe nur solche Verwundeten in die Heimat
zurück, die aus wohlhabenden und angesehenen amerikanischen Familien stammten.
Um dieses gemeine Gerücht zu zerstreuen, behauptete ein Senator, dass, sofern
Schwerverwundete überhaupt das Glück hätten, nach
Amerika zurückzukommen, »darunter sogar eine Waise sein könne – genau wie jeder andere«. Dann gab es
einige Aufregung – es galt, eine verwundete Waise
aufzutreiben, um die Worte des Senators in die Tat umzusetzen. Aber schließlich
fand man den idealen Mann.
    Technical Sergeant Garp war nicht
nur Vollwaise – er war auch schwachsinnig, und sein
Vokabular bestand aus einem einzigen Wort, so dass er sich nicht gegenüber der
Presse äußern konnte. Und auf allen Fotos lächelte der Turmschütze Garp.
    Als der sabbernde Sergeant
ins Boston Mercy eingeliefert wurde, hatte Jenny Fields Mühe, ihn

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