Gartengeschichten
beispielsweise, die sich aus der Stadt zurückgezogen und in den Zäunen und Hecken der Gärten eingeschlossen hatten. Das weiß ich nicht, darüber haben wir nie gesprochen. Jedenfalls erkannte er plötzlich, wo allein er imstande war, Einzigartiges hervorzubringen, den Garten nicht als Fluchtort, sondern als produktives Experimentierfeld nutzend. Seine Seminare hatten ihn gelangweilt, seine Schüler erschienen ihm öde,seine Bücher trockene Kost. Da geschah es irgendwann, daß ihm jemand eine Anzahl winziger Samen schenkte mit dem Hinweis, daraus würde Erstaunliches entstehen.
Es handelte sich um Tomatensamen einer Sorte namens De Berao. Der Philosoph legte die Samen sorgfältig in eigens gekaufte Torftöpfchen, stellte sie auf ein helles Fensterbrett, hielt sie feucht, aber nicht zu sehr, und beobachtete sie. Erst zeigten sich zwei winzige Keimblättchen an einem fadendünnen Stengel, ganz wie bei allen Tomatenpflanzen dieser Welt. Bald aber bewies die Pflanze ihrem Erzieher, was sie konnte: Sie wuchs ihm in Windeseile über den Kopf. Wie sehr hatte er sich das von seinen Schülern gewünscht, aber denen war er auf ermüdende Weise gewachsen geblieben. Nicht so der Tomate namens De Berao. Mit fünf dieser Giganten hatte er arglos angefangen. Hätte er alle behalten, wäre ein Umzug in einen anderen Garten unumgänglich gewesen. So verschenkte er alle bis auf eine.
Schon frühmorgens bewunderte er die wuchernde Pracht, der er alle paar Tage einen neuen Topf verpassen mußte, bis er endlich einen mächtigen Wurzelballen in seinen Gartenboden wuchten konnte. Aus Latten, Besenstielen und Gittern baute der Philosoph immer neue Rankgerüste für die sich nach allen Seiten unmäßig ausstreckende Pflanze. Er wunderte sich, wie sehr ihn die Fürsorge für die Mammuttomate befriedigte. Er wurde nicht müde, zu beobachten, was sich aus dem winzigen Körnchen entwickelte. Den Blütenansatz vermerkte er in seinem Notizbuch, das ihm zuvor jahrelang nur zur Aufnahme von Zitaten gedient hatte. Er vernachlässigte sein Seminar. Der Neukantianismus ließ ihn mit einemmal kalt. Ein Symposion, auf das er sich monatelang vorbereitet hatte, vergaß er, weil er sich im Zählen der Fruchtstände – Myriaden von tomatenversprechenden kleinengrünen Kügelchen – verloren hatte. Längst hatte die De Berao das Garagendach erklommen und zur Hälfte bedeckt. Regen ließ sie kalt, von der gefürchteten Braunfäule, die einem die Tomatenzucht vergällen kann, blieb sie verschont. Dem Philosophen war zum erstenmal das unschuldige Glück des Schöpfertums zuteil geworden. Da war zu vernachlässigen, daß der Durst seiner mächtigen Pflanze ein kleines Wasserwerk hätte auslasten können.
Er war wie viele intellektuelle Männer kein sehr freundlicher Mensch, der Philosoph. Seine Mitwelt ertrug er nur durch Papier abgeschirmt und geschützt. Mit seinen Erkenntnissen pflegte er sich soviel Mühe zu geben, daß er Widerspruch nicht ertrug, ja, nicht einmal begriff. Was durch die unendlich gewundenen und feinen Filter seines Verstandes gewandert war, konnte reiner, schlackenloser nicht mehr gedacht werden. So was schafft Bewunderer, Schüler, Verehrer – Freunde nicht. Bevor die Tomate in sein Leben getreten war, diente ihm sein Garten lediglich als einigermaßen angenehmer Aufenthaltsort. Wunder waren was für Weiber. Das hätte er nie so gesagt, man sah ihm aber an, daß er es dachte. Und nun geschah ihm selber eins, jeden Tag, Meter um Meter. Für die Tomate waren keine Metaphern nötig, ihre geschenkte Fülle und Einzigartigkeit machte den Philosophen ein bißchen demütig. Über die Freuden der Mitmenschen dachte er nicht mehr gering. Er ließ sich Samenkataloge und Staudenangebote schicken und lernte, sich an ihren haltlosen Versprechungen und den schönen Namen zu begeistern.
Als die Erntezeit gekommen war, brach die De Berao zwar alle Rekorde, es darf allerdings nicht verschwiegen werden: Die Tomaten schmeckten nicht besonders. Sie waren mehlig und ziemlich fade. Mit dem Philosophen sprach darüber aber niemand. Man ließ ihm den triumphalen Höhepunkt seinerneuen Erfahrung und machte stillschweigend Suppe aus der Rekordernte.
So kann es gehen, wenn einen Intellektuellen der Gartenpfeil ins Herz trifft. Das geschieht nicht oft, und wenn, dann auf die Tomatenart. Das besondere, das verblüffende Ereignis verführt kluge Leute manchmal für kurze Zeit. An der Eintönigkeit, mit der sich das echte Gartenopfer anfreundet – nicht nur
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