Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)
Erinnerungen vermittelt, dass diese sich ein plastisches Bild von ihm machen konnte.
»Danke für dein Verständnis«, sagte sie leise und tätschelte Georginas Knie.
»Nun fahr schon los, damit du rechtzeitig bei deiner Leiche bist«, gab sie zurück.
Franca trat aufs Gas, schlängelte sich durch die vielen Kurven des Parkhauses und fädelte sich auf die Autobahn Richtung Köln ein.
»So, und jetzt wirst du gnadenlos zugetextet und musst dir alles komprimiert in einer Stunde anhören, wofür wir sonst den ganzen Abend gehabt hätten.« Georgina grinste spitzbübisch. »Du wirst dir alle Katzen-, Hunde- und Verwandtengeschichten anhören. Wie Heather auf Aunties gutem Sofa Junge gekriegt hat. Wie alle geweint haben, als man die Kleinen weggeben musste. Und wie toll Kylie im Sport und in der Schule ist, wie viele Abzeichen und Preise sie gewonnen hat und überhaupt …«, deklamierte Georgina mit theatralisch erhobener Stimme. »Das hast du jetzt davon.«
Während sie über die Autobahn in Richtung Koblenz fuhr, tauchte Franca zusammen mit ihrer Tochter ein in einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit. Nur manchmal unterbrach sie Georginas Redefluss mit kurzen Nachfragen. Auch, um zu signalisieren, dass sie genau zuhörte. Die Menschen und auch die Haustiere, von denen Georgina erzählte, waren ihr zum großen Teil bekannt. Doch war diese Welt seit der Trennung von David in etwas weitere Ferne gerückt. Vergessen hatte sie sie nicht. Das Wichtigste aber, das sie aus Georginas Erzählungen heraushörte, war, dass es ihrer Tochter gut gegangen war. Sie war liebevoll umsorgt worden. Sie hatte wichtige Erfahrungen gewonnen. Nicht zuletzt die Erfahrung, dass es auch woanders auf der Welt sehr schön sein kann, wenn dort nette Menschen lebten, die es gut mit einem meinten. Zumal Menschen vom eigenen Fleisch und Blut.
Insgeheim war sie stolz auf ihre Tochter, die trotz aller Widerstände das Abenteuer des Suchens auf sich genommen hatte, um weit weg vom sicheren Zuhause an Sehfähigkeit und an Persönlichkeit zu reifen.
»Gina, es ist so schön, dich wiederzuhaben. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe«, sagte sie, als Georgina kurz in ihrem Redestrom innehielt.
»Ich hab dich ja auch vermisst – überhaupt, das alles hier. Deutschland … Hier ist meine Heimat.« Sie war eine Weile still. Franca dachte schon, sie sei eingeschlafen. Der Jetlag machte ihr sicher zu schaffen.
»Mammi, in Seattle war es zwar superschön. Aber es fühlt sich so gut an, wieder zu Hause zu sein«, murmelte ihre Tochter. » It’s really tearing off my heart. «
Franca spürte, wie ein Ziehen ihren Körper durchlief, das sich in der Herzgegend festsetzte. Sie presste die Lippen zusammen. Eine einzelne Träne brach sich Bahn und lief ihr die Wange hinunter. Die unterschiedlichsten Empfindungen trafen in diesem Moment zusammen. Glück und Schmerz und Freude und Wehmut, das alles durchströmte ihr Innerstes, als ihr Blick das Profil ihrer Tochter streifte. Georgina waren nun endgültig die Augen zugefallen.
Ach, mein Mädchen, wie hast du mir gefehlt!
2
Das Haus war voller Erinnerungen, die an den Wänden klebten und in den Ecken nisteten. Es lag an ihr, sie hervorzulocken. Sie hatte die Macht. »Man muss nur wollen und sich genug anstrengen, dann gelingt einem alles«, hörte Davina Frau Kirchner, ihre Sportlehrerin, sagen. Sie trug den weinroten Kimono ihrer Mutter, den sie ganz hinten in ihrem Schrank aufbewahrte. Ebenso wie das weiße, durchsichtige Kleid mit den Trompetenärmeln. Aus der kleinen Kiste unter ihrem Bett nahm sie ein schmales Tuch mit braunem Batikmuster heraus und wickelte es um ihre Handgelenke. Es roch leicht nach Moder und nach altem Parfüm. Es war das Band, das ihre Mutter im Haar getragen hatte. Das Band, das auch jetzt als Bindeglied dienen sollte.
»Du musst deinen Kopf überlisten, dann kannst du auch die schwierigste Übung«, hörte sie wieder Frau Kirchners Stimme. Sie war bereit. Was im Sportunterricht geklappt hatte, würde ihr ganz sicher auch jetzt gelingen.
Auf dem schwarzen Tuch vor ihr lag ein mattsilbernes Amulett, das Hexenauge. Sie nahm es in die Hand und strich sanft mit der Daumenkuppe über dessen reliefartige Erhöhungen. Ihr Herz klopfte in leiser Erregung. Mit der Athame hatte sie einen Bannkreis gezogen, um die magische Kraft zu bündeln. Sie blickte auf das Amulett, das an eine Fledermaus erinnerte. Unter ihrem zärtlichen Streicheln breitete sich Wärme aus, die durch
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