Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)
Vielleicht hilft ihr die Arbeit, um vom Schmerz abzulenken.«
9
»Mama, wann fahren wir nach Rügen?«
Mama steht vor dem Spiegel im Badezimmer, zupft sich Härchen aus, malt einen roten Mund und schwarze Augen. Ihr Spiegelbild lacht Davina an. Mama ist die schönste Mama von allen. Davina ist sieben Jahre alt.
Mama antwortet, was sie immer antwortet: »Bald.«
Davina hegt eine leise Hoffnung. Bisher hat sie sich jedoch nicht getraut, sie zu äußern, weil Mama dann immer so komisch reagiert.
»Wohnt mein Papa dort, wo die Kreidefelsen sind?« Die Frage ist einfach so aus ihr herausgeschlüpft. Erschrocken hält sie sich die Hand vor den Mund.
Mama dreht sich zu ihr um. In ihren braunen Augen glimmt etwas. »Du hast keinen Papa, und du brauchst auch keinen.« Mamas Miene hat sich innerhalb von Sekunden verändert. Ihr Gesicht ist bleich und leer. Der Mund scheint wie aus Stein gehauen. Das Lächeln ist kein Lächeln mehr.
»Mama«, ruft Davina erschrocken. Sie hat Angst vor diesem fremden Gesicht, das kaum noch Ähnlichkeit mit dem ihrer Mama hat. Sie will sagen: Nicht weggehen, Mama. Hierbleiben, bei mir, bitte! Nicht abtauchen in die andere Welt. Aber wie soll sie das ausdrücken?
Kurz darauf verwandelt sich die starre Maske wieder in ein lebendiges Gesicht mit dem vertrauten Lächeln. »Du hast doch mich, mein Prinzesschen.« Mama fährt ihr mit der Fingerkuppe sacht über die Nase. Es kitzelt, und Davina muss lachen. Mama ist bei ihr. Ihre Mama, die sie kennt, und nicht die Fremde, in die sie sich manchmal verwandelt.
Davina denkt an die Männerstimmen, die sie öfter nachts nebenan im Schlafzimmer hört. Ob einer von denen ihr Vater ist? Vielleicht der Mann, der neulich bei ihnen am See war? Hoffentlich nicht der am Lagerfeuer. Der hat Davina überhaupt nicht gefallen.
Obwohl, sie hätte gern einen Vater gehabt. Alle in ihrer Klasse haben einen Vater. Nur sie muss auf die Frage, wie ihr Vater denn heiße, die ewig gleiche Antwort geben: »Weiß ich nicht.« Und die Blicke aushalten, die sie regelmäßig dabei erntet. Blöde Blicke. Und albernes Gekichere.
»Wollen wir zum Schwimmen?«, fragt Mama. »Du und ich? Wir zwei beide?« Sie lacht und fasst Davina bei den Händen. Dabei fängt sie ein Lied an zu summen. » Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein. Unser Wannsee ist der Laacher See«, zwitschert sie.
Davina hat kein Schwesterlein und auch keinen Bruder. Sie hat nur Mama. Und Oma. Aber die zählt nicht richtig. Bis vor Kurzem hatte sie auch noch einen Opa. Opa Hans. Der war nett und schenkte ihr am Geburtstag eine Schachtel mit Katzenzungen. Aber er lag immer im Bett und konnte nicht aufstehen. Bis sein Bett eines Tages leer war.
»Ich packe gleich unsere Tasche. Such schon mal deinen Badeanzug raus.« Mama geht aus dem Bad in ihr Schlafzimmer.
Davina tut wie ihr geheißen, nimmt ihren Badeanzug aus der Kommodenschublade und wartet unten in der Küche. Eine dicke Fliege sirrt und summt, stößt in regelmäßigen Abständen an die geschlossene Fensterscheibe. Davina geht zum Fenster und öffnet es. Aber die Fliege ist so dumm, sie findet den Weg nicht hinaus. Immer wieder stößt sie laut sirrend gegen irgendwelche Hindernisse. Davina setzt sich an den Küchentisch. Zieht mit dem Fingernagel das Muster der Wachstuchtischdecke nach, bemerkt ein paar Risse und Flecken. Dann geht sie ins Wohnzimmer, wo hinter dem Goldrandgeschirr eine Pralinenschachtel versteckt ist. Die hat sie kürzlich entdeckt. Sie nimmt eine der Pralinen heraus und steckt sie sich in den Mund. Die Schokolade zergeht auf der Zunge. Wie sie diesen klebrig-süßen Geschmack liebt. Sie nimmt noch eine Praline und noch eine.
Zurück in der Küche schaut sie auf die Uhr, deren großer Zeiger sich langsam weiterschiebt. Die dicke Fliege ist inzwischen verschwunden.
Wo Mama nur bleibt? Sie wollte doch nur die Tasche packen. Sie tritt in den Flur und lauscht nach oben. Dort ist alles still.
Davina drückt eine vage Ahnung beiseite.
»Mama«, ruft sie. Keine Antwort.
»Mama, bist du fertig?«
Als sich oben immer noch nichts rührt, setzt sie zögernd einen Fuß auf die Treppe. Ihr Herz beginnt zu pochen. Sie hat Angst vor dem, was sie gleich sehen könnte, und geht doch Schritt für Schritt die knarzenden Stufen hoch, eine nach der anderen. Obwohl sie es nicht will, denkt sie an die Klinge in der Hand ihrer Mutter und an das Blut auf ihrem Arm. Und daran, wie sie wie von Sinnen geschrien hat: »Mama, warum
Weitere Kostenlose Bücher