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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

Titel: G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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ein geheiligtes Symbol Amerikas, das in der Scheiße versank - war mehr, als Oscar ertragen oder ignorieren konnte. Neben der Kanalöffnung waren eiserne Sprossen an die Betonwand des Kais genietet, und auch wenn sie nicht bis ganz hinunter zum Wasser und der eingestürzten Pier reichten, rechnete sich Oscar aus, daß es ihm mit einem langen Stock gelingen müßte, von der untersten Sprosse aus die Fahne herauszufischen. Er bemerkte einen zersplitterten Bootshaken, der an einen Lagerschuppen gelehnt stand, und holte ihn sich schnell.
    Die Sprossen waren übel zernarbt und verrostet, aber noch alle fest in der Wand verankert - alle, außer der vorletzten, die überhaupt nicht mehr vorhanden war. Oscar mußte einen sehr langen Schritt tun, um die Lücke zu überwinden, und die Bewegung erwies sich für seine Hose als eine zu große Belastung: Es erklang ein prrrv on zerreißendem Stoff, und ein kalter Luftzug umstrich plötzlich seine Gesäßbacken. Auf der untersten Stufe angelangt, verrenkte sich Oscar den Hals, um das Ausmaß des Schadens zu ermitteln, und während er das tat, vernahm er zwei weitere Geräusche. Das eine war ein leises Motorenbrummen von oben. Der Schatten der »Sweet Jane« legte sich über den Kai, aber Oscar sah nicht auf, weil er jetzt das zweite Geräusch hörte.
    Musik. Ein klassisches Thema, das der Mündung des Abwasserkanals entströmte. Die vertraute Melodie ließ Oscar an die Dinosaurier in Walt Disneys Fantasia denken, die ihrem Aussterben entgegenmarschieren, und als er genauer hinhörte, machte er noch ein leises Krabbeln oder Trippeln aus, als ob ein Geschöpf mit sehr kurzen Armen und Beinen durch das Rohr heranrobbte.
    »Oblio?« sagte er, obwohl er wußte, daß er es nicht sein konnte. Während er sich mit einer Hand an einer Sprosse festhielt, reckte er sich weit nach rechts hinüber, bis sein Gesicht sich direkt vor der Öffnung befand. Drinnen war nur Dunkelheit zu sehen. Hallo?« rief er, als die Musik anschwoll. »Ist da jemand drin...?«
    Im Produktionsstudio der »Sweet Jane« machte Dan Rather einen Satz, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen.
    »Mein Gott«, sagte er. »Haben Sie das gesehen?«
    »Was gesehen?« sagte Ellen Leeuwenhoek.
Kann ich Ihnen helfen?
    »Uff!«
    Joan stieß mit dem Obdachlosen im Eingangsbereich der Grand Central zusammen. Sie war größer - und ging schneller -als er, und er wäre längelang hingefallen, wenn sie ihn nicht rechtzeitig festgehalten hätte. Viele hätten ihn eher fallen lassen, als ihn anzurühren - er stank wie eine Kloake -, aber Joan packte ihn fest an den Oberarmen und sah ihm dabei ins Gesicht, und so erkannte sie ihn.
    »Clayton?« sagte sie. »Clayton Bryce?«
    Seine Augen waren so rund aufgerissen wie die eines wissenden Kalbs, das im Schlachthof darauf wartet, an die Reihe zu kommen; als er seinen Namen hörte, stieß er ein klagendes Muhen aus und verkrallte sich in die Brust von Joans Jacke wie jemand, der am Rande eines Abgrunds verzweifelt nach Halt sucht. Ayn Rand erschauderte in ihrer Lampe vor Abscheu.
    »Laß das!« bellte sie. »Hör auf, sie anzugrapschen, du Penner!«
    »Ach, Clayton«, sagte Joan. Er sah katastrophal aus: in dreckige Lumpen gekleidet und so realistisch wie ein langjähriger Stadtstreicher zurechtgemacht, daß nicht einmal seine Eltern ihn wiedererkannt hätten - oder zugegeben hätten, ihn zu kennen. Sein normalerweise konservativer Haarschnitt war durch eine zottige Perücke oder Filzmatte von strähnigen braunen Locken ersetzt worden. An seinem Gesicht klebte ein schütterer Vollbart, und am Kinn waren kahle, dick verschorfte Stellen, wo er sich beim Versuch, die falschen Haare loszureißen, Flautpartien abgefetzt hatte. Seine Zunge war zur Größe eines Tennisballs aufgequollen, so daß er kaum noch reden und nur mühsam atmen konnte; Nase und Augen waren verschwollen und triefig; und ebenso geschwollen waren seine Hände, unförmig und rosa, wie gekochtes Fleisch, und sie schmerzten so sehr, daß er es gerade eben schaffte, den zerbeulten Blechbecher voll Bleistiften, der seinen einzigen noch verbleibenden irdischen Besitz darstellte, festzuhalten.
    »Ach, Clayton«, wiederholte Joan, und in ihrem Kopf nahm sofort ein mögliches Szenario Gestalt an, »was haben Sie nur getan, etwas Dummes und Herablassendes über Obdachlose gesagt? Vielleicht einem Unbekannten gegenüber?«
    Claytons Herz setzte für einen Augenblick aus, und seine Miene änderte sich, erst zu einem Ausdruck des

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