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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

Titel: G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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spricht, sondern richtig leibhaftig erscheint, ein, sagen wir, fünfzehn Zentimeter großes Männchen, oben auf dem Gerät. Und hey, hey, angenommen, du bist Single oder krank und mußt das Bett hüten, dann könnte er ja überhaupt dableiben und sich das Video mit dir anschauen...«
    Harry Gant trank seinen nicaraguanischen Kaffee schwarz, ohne einen Krümel Zucker. Bei ihrer zweiten Tasse angelangt, nutzte Joan, vom berauschenden mittelamerikanischen Aroma beflügelt, eine Gesprächspause aus, um einen Vorschlag zu machen. Es war nicht das erste Mal, daß sie sich so was traute, aber es erfüllte sie trotzdem mit Stolz, besonders als Harry geschmeichelt lächelte und ja sagte. Arm in Arm gingen sie die Kirkland Avenue entlang zu Joans Wohnung, nach Somerville, beide erregt durch die Nähe des anderen und durch die Möglichkeiten der Jugend, beide ohne die geringste Ahnung von der Tatsache, daß sie die ersten Schritte in Richtung Hochzeit unternahmen. Vor dreißig heiraten: wie absurd wäre schon die bloße Vorstellung erschienen - in diesem brandneuen Jahrtausend der Leidenschaft und der Rosen.
    Nouvelle Wollust hatte im April 2002 Premiere; es lief zwar nur in einer begrenzten Anzahl von Programmkinos, erntete aber gute Kritiken und löste eine einträgliche Kontroverse aus. Schon nach einem Monat war der Film sowohl vom Nationalen Frauenverband als auch von den Neuenglischen Freunden der Tugend angeprangert worden, und nachdem »60 Minutes« einen Bericht über den »Studentenfilm, der Boston erröten ließ« gebracht hatte, war der ganz, ganz große Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Am Unabhängigkeitstag hatte Lexa bereits lukrative Verträge mit zwei Vertriebsgesellschaften - Cineplex Odeon und Vestron Video - abgeschlossen und hetzte durch New York City auf der Suche nach einer Wohnung und einer Druckmaschine.
    Harry Gant machte mit seinem Multiple-Persönlichkeits-
    Videorecorder gleichfalls sein Glück, aber das erlebte Joan nur aus der Ferne. Nachdem sie einen Tag und eine Nacht miteinander verbracht hatten, kehrten sie beide in die getrennten Kreisbahnen ihres jeweiligen Lebens zurück und verabredeten sich danach zwar noch gelegentlich, aber ohne ein wirkliches Paar zu werden. Im darauffolgenden Herbst zog Gant mit seinem Patent in der Tasche gen Süden, um in Georgia eine Firma zu gründen. Von seinem neuen Wohnort schickte er Joan eine einzige Postkarte, ein schlichtes schwarzes Rechteck mit der Aufschrift Atlanta bei Nacht . Als sie die eines Morgens in ihrem Briefkasten fand, dachte Joan mit Zuneigung, aber ohne ein direktes Gefühl des Verlusts an ihn zurück: Er war unterhaltsam. Ein bißchen chaotisch, aber unterhaltsam.
    Sie sahen sich erst sechs Jahre später wieder, und in der Zwischenzeit war alles anders geworden.
2023: Der sonderbare Tod des Amberson Teaneck
    »Er wurde totgeschlagen«, sagte Joan. »Mit einem Exemplar von Atlas wirft die Welt ab.«
    Sie waren noch immer oben im Gewächshaus und rauchten. Joan hatte die Begonien von ihrem fahrbaren Tischchen geräumt und die Akte vom Mordfall Teaneck ausgebreitet, damit Kite einen Blick hineinwerfen konnte.
    »Atlas wirft die Welt ab«, sagte Kite. »Ist das dieser dicke Roman von Ayn Rand?«
    »Genau der.«
    »Wie spricht sich der Vorname eigentlich aus?«
    »Reimt sich auf >mein<«, sagte Joan.
    »Und sie war doch auch Philosophin, oder, nicht nur Schriftstellerin?« Kite versuchte, sich zu erinnern; die Trivialliteratur der Eisenhower-Ara gehörte nicht zu ihren Spezialgebieten, da sie den größten Teil dieser Periode für die mexikanische Küstenwache gearbeitet hatte, als Leuchtturmwärterin unten in Baja California. »Wie hieß das noch mal... Objektionismus?«
    »Objektivismus«, korrigierte Joan sie. »Wie in >objektivsein<.«
    Kite zündete sich eine neue Zigarette an. »Dann hilf mir auf die Sprünge - worum drehte sich der Objektivismus noch mal?«
    »Im wesentlichen ist er eine zum ethischen Absolutum erhobene aufgeklärte Selbstsucht. Ayn Rand war davon überzeugt, rationales Denken, individuelle Leistung und Eigennutz seien die Dreifaltigkeit menschlicher Tugend - die Vernunft ist der Vater, der Fleiß der Sohn und der Egoismus der Heilige Geist -, und das System, in dem das menschliche Erfolgsstreben am meisten gefördert werde, und damit das einzig wirklich moralische System, sei der totale Laissez-faire-Kapitalismus. Keinerlei obrigkeitliche Reglementierung der Produktion oder Beschränkung des freien Wettbewerbs, aber dafür

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