Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Meditationen überein. In der That bin ich auf das Äußerste überrascht … und höchst erfreulich ist es mir, dass gerade der Sohn meines alten Freundes es ist, der mir auf eine so merkwürdige Art zuvorgekommen ist» [Bol: 109]. Doch bei diesem privaten Lob, das man auch als freundlich formulierten Prioritätsanspruch deuten kann, bleibt es dann auch. Gauß äußert sich nicht öffentlich über Johann Bolyais Arbeit. Der Vater respektiert die Haltung des alten Freundes, sein Sohn aber, der Soldat ist und von einer Karriere als Mathematiker träumt, glaubt ohne eine Empfehlung von Gauß außerhalb Transsilvaniens keine Chance zur Entfaltung zu haben. Die Enttäuschung über Gaußens Reaktion scheint er am Vater auszulassen. Wolfgang Bolyai macht drei Jahre später deswegen ein paar dunkle Andeutungen. Seine erste Frau und Mutter Johanns soll die letzten vier Jahre ihres Lebens im Wahnsinn verdämmert haben. Nun ist auch seine zweite Frau «nach einer langwierigen Krankheit gestorben … Der härteste Schlag aber, woran mein Herz zerbrach, ist der beynahe unglaubliche Undank meines Sohnes … am Ende war ich gezwungen … ihn aus dem väterlichen Zirkel zu verbannen» [Bol: 118]. Eine fast unheimliche Parallele zum Schicksal des alten Freundes in Göttingen. Heiraten will Bolyai jedenfalls nie wieder: «… eine einzige Xantippe erfordert einen Socrates: bewahre Gott mich vor einer 3 ten !»
Wieder antwortet Gauß nicht. Er arbeitet gerade fieberhaft an einer verbesserten Methode, kurze Stromstöße durch einen Eisendraht über Göttingens Dächer zu jagen. Wahrscheinlich hofft Gauß, dass die Korrespondenz ganz von selbst wieder im Sand verläuft, wie damals, als der wunderlich gewordene Bolyai ihm seinen Sohn auf den Hals schicken wollte. Wolfgang Bolyais Charakter ist schwer zu fassen. Seine Briefe strahlen eine seltsam tragikomische Atmosphäre aus. Von tiefster Melancholie und Bitterkeit durchtränkt, sind diese Tiraden für empfindliche Gemüter nur schwer zu ertragen. Überall wittert er Krankheit, Leid und Zerfall. Von lyrischem Grandiositätswahn wechselt er zu religiös gefärbter Unterwürfigkeit gegenüber Gauß, die allerdings auch ironisch gemeint sein kann. Bolyai hat sich das Bild vom zweiundzwanzigjährigen Gauß bewahrt, dessen Busenfreund er einmal gewesen ist. Und an diese süße Erinnerung – das Beste, was ihm je im Leben passiert sei – klammert er sich nun.
Erfreulicher gestaltet sich der Umgang mit Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski, dem dritten Mathematiker, der sich neben Gauß mit einer über Euklid hinausweisenden Geometrie beschäftigt. In den 1840er Jahren hat Gauß eifrig Russisch gelernt – sein Appetit auf neue Herausforderungen ist ungestillt – und kann nun die Arbeiten des Mathematikprofessors aus Kasan über dessen «imaginäre Geometrie» im Original lesen. Lobatschewski habe, schreibt er Schumacher im November 1846, «auf meisterhafte Art in ächt geometrischem Geiste» einen anderen Ansatz als er selbst gewählt. «Sie wissen, dass ich schon seit 54 Jahren (seit 1792) dieselbe Ueberzeugung habe … Materiell für mich Neues habe ich nicht gefunden» [ShuIII: 247]. Aber weder ihn noch seine «imaginäre Geometrie» wird Gauß je offiziell erwähnen. Ein wenig rätselhaft ist diese Furcht des Arrivierten vor einem lautstarken Theoretikerstreit schon. Denn ist er nicht als Neunzehnjähriger mit seiner Konstruktion des Siebzehnecks schon einmal weit über einen Satz von Euklid hinausgeprescht und damit berühmt geworden?
Carl Friedrich Gauß und Wolfgang Sartorius von Waltershausen wenden sich jetzt dem Ausgang des Bahnhofsgebäudes zu. Der jüngste Spross des Barons heißt August – womöglich eine Verbeugung des Vaters vor seinem Patenonkel Goethe und dessen gleichnamigem Sohn. Der Dichterfürst selbst hat die erste deutsche Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth um drei Jahre verpasst, aber er war natürlich auf dem Laufenden und misstraute ihrem ungesunden Tempo. Sein Fazit: Unruhe und Ungeduld stürzten unsere Zivilisation ins Verderben. In einer Wortschöpfung verknüpfte er die Eile – velocitas – mit dem Höllenfürsten Lucifer zu einer unheiligen Allianz: «… alles veloziferisch …», schrieb er 1825 an den preußischen Juristen Georg Heinrich Ludwig Nicolovius und brachte damit seine Meinung über das moderne Leben auf den Punkt.
In den 1850er Jahren wird jede neue Eisenbahnstrecke in Kontrollabschnitte aufgeteilt, für deren Sicherheit jeweils eine
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