Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Energie, Telefon, Radio, Fernsehen, Computer, Raumfahrt, Internet und die vielen im Windschatten dieser Erfindungen segelnden Apparate und Maschinen. Die Mathematik für diesen elementaren Zusammenhang reduziert Maxwell von ursprünglich zwanzig auf vier weltverändernde Formeln. Die Hälfte davon hat zuvor bereits ein Experte aus Göttingen in strenger mathematischer Sprache formuliert: das «Gauß’sche Gesetz der Elektrizität» und das «Gauß’sche Gesetz für Magnetismus».
Göttingen, 24. Oktober 2007. Ich stehe in einer Abstellkammer im Keller des Universitätsinstituts für Ethik und Geschichte der Medizin. Die beiden Türen eines schlichten weißen Büroschranks öffnen sich. Ein vertikales Brett trennt ihn in zwei Abteile. Rechts liegen rund zwanzig weibliche Beckenknochen in unterschiedlich sandfarbenen Tönen übereinandergestapelt. Sie sind in transparente Luftpolsterfolien eingeschlagen. Im linken Teil des Schrankes sind vier Regalbretter eingezogen. Auf jedem Brett steht ein massives Glas von 22 Zentimetern Durchmesser und 23 Zentimetern Höhe. Jedes ist mit einem Glasdeckel verschlossen. In einer gelblich trüben Flüssigkeit liegt in jedem Behälter ein menschliches Gehirn. Auf dem zweiten Glas klebt ein rundes Stück Papier, das inzwischen eine ähnlich dunkle Sandfarbe angenommen hat wie die Beckenknochen nebenan. Die Aufschrift lässt sich nur noch mühsam entziffern: «Gehirn eines Mannes v. 78 Jahren. C. F. Gauss. gest. 1855. wog frisch mit den Häuten 1492 gr. ohne Häute 1415 gr. am 15. Mai 1856 wiedergew. 1016 gr.»
Knapp hundert Jahre lang stand Gauß’ Gehirn unbeachtet im Institut für Physiologie, bis es um 1950 in einen Institutsneubau gelangte. Der Neuropathologe Hans Orthner nahm das Glas dann 1977 mit in die Pathologie des neuen Klinikums. Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner sorgte dafür, dass es 1995 in eine Ausstellungsvitrine im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin kam. Später strandete es dann hier im Resopalschrank im Souterrain des Gebäudes. Nur noch die linke Hälfte des Gehirns von Carl Friedrich Gauß lässt sich erkennen. Sie «steht auf dem Kopf», das heißt, die Wölbung der Großhirnrinde berührt den Boden des Glasbehälters. Die rechte Hemisphäre ist völlig eingehüllt in die milchige Wolke eines sich auflösenden Gazestoffs. Beim Drehen des Glases wirbeln kleine Gewebeteilchen hoch. Sie sind von den überraschend hell gebliebenen Hirnwindungen abgeplatzt. Die Bruchstellen haben jetzt allerdings einen sandfarbenen Ton angenommen. Bei so vielen Ockernuancen schweift der Blick unwillkürlich wieder hinüber zu den weiblichen Beckenknochen in der rechten Schrankhälfte. Sie gehören zur geburtskundlichen Sammlung von Friedrich Benjamin Osiander und stammen von Frauen, die in seiner Entbindungsklinik bei der Geburt gestorben sind. Als Student wohnte Gauß in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem sogenannten Accouchierhaus. Er hat die zumeist ungewollt schwanger gewordenen jungen Frauen täglich dort ein und aus gehen sehen.
Auch die anderen drei Gehirne in diesem Schrank hat der Physiologe Rudolph Wagner nach Osiander’schen Vorgaben in Weingeist eingelegt. 1855 waren die Konservierungsmethoden zwar ausgereift, aber nirgendwo gab es eine repräsentative Sammlung genialer Gehirne, die eine vergleichende Studie über den anatomischen Sitz überragender Intelligenz zugelassen hätte. Doch die Umstände schienen günstig für Wagner zu sein, was er selbst 1860 in seiner großen Hirnstudie etwas erstaunt zugibt: «Nachdem ich mit Gauss’ Gehirn begonnen hatte, suchte ich weiter jede Gelegenheit zu benutzen, um die Gehirne anderer ausgezeichneter Männer zur näheren Untersuchung bei den Sektionen zu erhalten. Die innerhalb der letzten 5 Jahre vorgekommenen Todesfälle an unserer Universität haben mir leider wiederholt die schmerzliche Gelegenheit geboten, meine Wissbegierde zu befriedigen …» [Wag 1 : 61].
Die Gehirne dieser «Todesfälle an unserer Universität» schwimmen hier vor meinen Augen in ihren Glasbehältern. Seit 150 Jahren legen sie nun schon Zeugnis von Wagners handwerklichem Können ab. Sie gehörten drei weiteren Göttinger Gelehrten und gelten zusammen mit dem von Carl Friedrich Gauß als die älteste Elitehirnsammlung der Welt. Anatomieprofessor Conrad Fuchs war der Nächste. Er starb, nur ein halbes Jahr nachdem er selbst Säge und Skalpell in die Hand genommen und Gauß’ Gehirn aus der Schädelhöhle geborgen hatte.
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