Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Ebenfalls noch im Jahr 1855 lag der Philologe Carl Hermann auf Wagners Sektionstisch, während 1859 der berühmte Zahlentheoretiker Peter Gustav Lejeune Dirichlet und der angesehene Mineraloge Friedrich Hausmann starben. Dessen Gehirn kam allerding unter ungeklärten Umständen abhanden.
Wie es Rudolph Wagner überhaupt gelingen konnte, sich das Gehirn von Carl Friedrich Gauß anzueignen, bleibt bis heute ein Rätsel. Das Zeitfenster zwischen dem Eintritt des Todes und der Autopsie war mit etwa 30 Stunden äußerst schmal, zumal Joseph als männliche Entscheidungsinstanz der Gaußfamilie im 100 Kilometer entfernten Hannover wohnte. Für Überzeugungsarbeit unter vier Augen blieb da wenig Zeit. Fünf Jahre später bezieht Wagner in seiner ersten großen Publikation über Elitegehirne alle Messungen, Tabellen und Verhältniszahlen auf das Referenzgehirn von Carl Friedrich Gauß. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf die Erlaubnis von Joseph Gauß, den «würdigen Sohn unseres großen Mathematikers», und weist jede «Verletzung einer Pietät» [Wag 2 : 60] energisch zurück.
Wagner ist 1840 auf den Lehrstuhl für vergleichende Physiologie und Zoologie berufen worden. Ersten offiziellen Kontakt mit Gauß bekommt er auf der Ebene der Hochschulselbstverwaltung. Gauß schreibt ein Gutachten über die Reform der Universitäts-Witwen-und-Waisenkasse, das über Wagners Schreibtisch geht. Dabei kommen sie ins Gespräch über das Gleichnis vom ungerechten Haushälter im Lukas-Evangelium. Wagner gehört eher zur Peripherie des Gauß’schen Freundeskreises. Zu groß scheint die menschliche Distanz zwischen den beiden zu sein, zumal Wagners lutherisch orthodox geprägtes Demutsbedürfnis keine Begegnung auf Augenhöhe zulässt. Im November und Dezember 1854 kommt es dennoch zu fünf Gesprächen mit Gauß, die sich um die Grenzen des Wissens, die Tröstung des christlichen Glaubens und um metaphysische Spekulationen über ein Leben nach dem Tod drehen. «Erst im Angesicht des Todes hat Gauß Wagner gegenüber auf die Schranken förmlichen Respekts verzichtet» [Wag 2 : 147], schreibt Heinrich Rubner, der Wagners Aufzeichnungen herausgegeben hat. Offiziell versteht Wagner seine Besuche in der Sternwarte zwei Monate vor Gaußens Tod als «ernste Absicht, einem schwerkranken Kollegen aus seinem Glauben heraus beizustehen» [Wag 2 : 161]. Doch angesichts der Hirnentnahme wenige Wochen später liegt die Annahme nahe, dass Wagner den Coup bereits zu diesem Zeitpunkt geplant und die Besuche auch genutzt haben wird, um sich Therese und dem engeren Freundeskreis als bevorzugter Gesprächspartner und Vertrauter des Todgeweihten zu empfehlen.
Vermutlich hat Wagner erst während der Autopsie seine wahren Motive offengelegt. Auch Gauß’ Leibarzt Wilhelm Baum ist in Wagners Plan eingeweiht gewesen, denn er wird in der Elitehirnstudie ausdrücklich als Sekundant des heiklen Unternehmens genannt. Möglicherweise hat die nichtsahnende Therese dann am Tag der Aufbahrung die Schnitt- und Sägespuren gesehen und wird trotz aller Selbstbeschwichtigungen entsetzt darüber gewesen sein, dass sie getäuscht wurde und das gefeierte Genie am Tag des öffentlichen Abschieds ausgerechnet ohne sein – wenn auch erloschenes – Geistesorgan auf der Bahre lag. Gewiss ließen die besonderen gesellschaftlichen Umstände, der herrschende nüchterne Zeitgeist und das spezielle Göttinger Eliteverständnis das Tabu einer Gehirnentnahme ins Wanken geraten. Im Namen der Wissenschaft galt nunmehr das «Gehirn als Bestandteil der Erinnerungskultur» [Hag: 150]. Aber musste denn ausgerechnet ihr Vater der Erste sein, dem diese zweifelhafte Ehre zuteilwerden sollte? Ob der spektakuläre Beutezug Wagners nun dreist, verwerflich, pietätlos oder wissenschaftlich legitim zu nennen ist, soll jedem anteilnehmenden Beobachter selbst überlassen bleiben.
Wagner selbst bedauert später ausdrücklich, dass ihm 1855 bei den Gehirnen von Gauß und Fuchs die vollständige Härtung und Erhaltung der Form noch nicht so gut gelungen sei wie später bei Hermann und Dirichlet. Ein Blick auf das dritte Regalbrett im Keller des Ethikinstituts gibt ihm recht. Das Gehirn von Dirichlet ist fast 150 Jahre nach seiner Entnahme noch makellos weiß. Im Gegensatz zum Glas mit dem Gauß’schen Gehirn schwimmen hier keine abgebröckelten Gewebereste herum. In den vier Jahren zwischen Gaußens und Dirichlets Tod vervollkommnete er offenbar sein Handwerk zur Perfektion.
Da Wagner mit den
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