Gauß: Eine Biographie (German Edition)
eine Formel für die Verteilung der Primzahlen zu finden und die euklidische Geometrie – nun, da er den Meister im griechischen Original gelesen habe – doch noch einmal auf Erweiterungsmöglichkeiten zu untersuchen. Und er habe noch so manche Ahnung, die er jedoch noch nicht mathematisch formulieren könne.
Zimmermann stellt fest: Der Junge ist selbstsicher, aber nicht anmaßend. Da erobert sich gerade ein außerordentliches Talent sein ureigenes Territorium und entschuldigt sich dafür, noch nicht alles verstanden zu haben, da er treuherzig annimmt, Zimmermann müsse doch, stellvertretend für die ganze Mathematikerzunft, längst mit derartigen Ideen vertraut sein. Stünden die denn nicht in den Lehrbüchern, die ihm nur noch nicht zugänglich seien – Stoff, den er auf dem Carolinum doch gewiss bald kennenlernen werde? Der Professor hütet sich weise, Carls originelle Kreise zu stören. Aber er hilft ihm, die Steine aus dem Weg zu einer großartigen Karriere zu räumen, und lässt seine guten Beziehungen spielen. Er schreibt an den Herzog, beschwört ihn, den Jungen zu fördern, und verspricht ihm dafür – «(dieß sind ipsissima verba) einen Leibniz oder Newton» [Zim 1 : 66]. Im Stadtzentrum, am Bohlweg, liegen sich das Collegium Carolinum und das Residenzschloss «Grauer Hof» direkt gegenüber, eine gute Nachbarschaft, die im engmaschig geknüpften politischen Beziehungsnetzwerk ihre Fortsetzung findet. So wendet sich Zimmermann an den Staatsminister Feronçe von Rotenkreutz, der ihm eine Audienz beim Herzog vermittelt. Und deshalb steht dieser Junge, der kein Kind mehr, aber auch noch kein Erwachsener ist, an einem Junitag des Jahres 1791 in Begleitung des Professors vor seinem Landesvater Carl Wilhelm Ferdinand.
Der Herzog zu Braunschweig und Lüneburg hat sich als erfolgreicher Feldherr in Diensten Friedrichs des Großen erwiesen, gilt als ebenso höflich wie unnahbar, scharfsinnig und nachdenklich, beliebt beim Volk wegen seiner Milde und seiner moderaten Steuerpolitik. Honoré Gabriel Victor Mirabeau urteilte: «Sein Land ist so frei wie es möglich ist, es ist glücklich und zufrieden, obwohl die Krämer die Verschwendung des verstorbenen Herzogs mit Bedauern vermissen» [Ste: 119]. Dem «Grauen Hof», so benannt nach den grauen Kutten der Mönche, die hier einstmals residierten, fehlt in diesen Tagen tatsächlich die Farbenpracht der rauschenden Feste, die unter der Hofhaltung von Ferdinands Vater gang und gäbe waren. Doch diesen Posten hat Ferdinand, dem es mit dem Sparen bitterernst ist, aus dem Etat gestrichen. Johann Wolfgang von Goethe, der 1784 einige Zeit am Braunschweiger Hof zu Gast gewesen ist, schrieb an Frau von Stein, der Herzog sei «ein merkwürdiger Charakter», der es ausgezeichnet verstehe, die kleinen Eitelkeiten der Menschen zu befriedigen, er könne jedem nach seiner Art schmeicheln, er gebrauche die Männer, amüsiere die Frauen. Schließlich nennt er ihn einen «Vogelsteller, der seine Vögel kennt und der mit wenig Mühe und Kosten sicher ist, jeden Tag einige zu fangen» [Ste: 119].
Zu Hause, in Weimar, hat der Dichter beste Kontakte zu Anna Amalia, Mutter des regierenden Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Die frühere Regentin hat dazu beigetragen, dass die Hauptstadt des kulturell zuvor eher brachliegenden Fürstentums zu einem glanzvollen neuen Kristallisationspunkt deutscher Literatur geworden ist. Keinen Geringeren als den Dichter Christoph Martin Wieland hat sie als Erzieher ihrer Kinder engagiert. Anna Amalia ist Ferdinands Schwester und ist gemeinsam mit ihm zu der Geisteshaltung erzogen worden, der deutschen Sprache und Literatur neben der alles überstrahlenden französischen Kultur die ihr zukommende Geltung zu verschaffen. Noch als Erbprinz hatte Ferdinand 1769 den verzweifelten, in finanzielle Not geratenen Lessing davon abgehalten, nach Italien auszuwandern, und ihm die Leitung der Herzog-August-Bibliothek in der Nachbarstadt Wolfenbüttel angeboten. Selbstverständlich dominiert am Grauen Hof bei Tisch und am Kamin auch weiterhin das Französische, die Briefe an die hohe Verwandtschaft in Berlin sind, comme il faut , ausschließlich in der Sprache Voltaires verfasst.
Allerdings wird auch an diesem Junitag des Jahres 1791, da Professor Zimmermann mit seinem Schützling Carl Friedrich Gauß auf ihre Audienz wartet, in der Umgebung des Herzogs mehr Französisch gesprochen als je zuvor. Schließlich ist ein großer Teil des französischen
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