Gauß: Eine Biographie (German Edition)
hier einen lauten Knall gegeben, den die Stiefelträger ihrerseits mit beifälligem Getöse quittiert haben. Und sollte ein Passant draußen auf dem Gehweg dabei zusammengezuckt sein, so kann es sich eigentlich nur um einen Zugereisten handeln, denn in Göttingen weiß jedes Kind, dass der berühmte Herr Professor dort oben mit mysteriösen Kräften zu hantieren versteht, die Vater, Lehrer und Pfarrer nie befriedigend erklären können. Auch die Lehrlinge und Gesellen in der Druckerwerkstatt des Verlagsbuchhändlers Johann Christian Dieterich im Erdgeschoss achten schon lange nicht mehr auf die kleinen und großen Explosionen und den ständigen Brandgeruch im stickigen Treppenhaus, nachdem hundert Studenten sich den Regen aus den Kleidern geklopft haben und nach oben gestiefelt sind.
In diesem Haus sind Kommen und Gehen Programm. Hier leben alle unter einem großzügigen Dach: der Hausherr Dieterich und seine Familie, die Angestellten und Dienstboten sowie ein paar wohlhabende Studenten samt ihrer Hofmeister, in manchen Zeiten mehr als 50 Menschen auf drei Etagen. Im Erdgeschoss wird die Göttingische Zeitung produziert. Anfangs hat Professor Georg Christoph Lichtenbergs Schreibtisch im ersten Stockwerk unmittelbar über der Dieterich’schen Druckerpresse gestanden, wo die Gesellen geräuschvoll ihrem Handwerk nachgehen.
Inzwischen ist er in den zweiten Stock umgezogen. Lichtenberg ist mit dem Verleger befreundet und zahlt seine Miete in Naturalien: als Redakteur und Autor des Göttingischen Taschen Calenders , eine populärwissenschaftliche Zeitschrift, die sich der Aufklärung und dem Kampf gegen den Aberglauben verpflichtet fühlt.
Im Vortragssaal im zweiten Stock * steht ein auffallend kleiner und zerbrechlich wirkender Mann mit zarten Gesichtszügen und einem Buckel vor seinen Studenten. Er ist 53 Jahre alt, wird häufig von Asthmaanfällen heimgesucht und leidet wegen des Buckels unter einer Lungeninsuffizienz. Vier Jahre bleiben ihm noch unter den Lebenden. Er beugt sich über ein niedriges Holzgestell mit drei elegant geschwungenen Beinen. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein zu groß geratenes Blumenpodest mit einer runden Metallplatte. In der Hand hält der Mann eine Hasenpfote und wischt damit über die Platte des Gestells. Auf der Ablage darunter liegen die Felle einer graugetigerten Katze und eines Hasen sowie verschiedene Puderdosen, Flakons und Lederbeutel, die mit Pülverchen gefüllt sind. Für den Uneingeweihten deutet nichts darauf hin, dass hier gerade das berühmte Experimentalphysikkolleg der Universität Göttingen stattfindet, über das jeder Physikus in Europa mit Ehrfurcht spricht.
Auf die runde Metallunterlage ist ein halber Zentner Harz der burgundischen Kiefer aufgetragen. Professor Lichtenberg hat es eigenhändig glatt gehobelt und auf Hochglanz poliert. Diesen sogenannten Kuchen reibt er jetzt kräftig mit dem Katzenfell, nimmt einen Deckel aus Zinn zur Hand und senkt ihn an vier isolierenden Seidenschnüren behutsam auf den Kuchen herab. Mit dem Mittelfinger berührt Lichtenberg einen Nagel, der aus der Einfassung des Kuchens herausragt, und fasst gleichzeitig den Deckel mit dem Daumen an. Nun hebt er ihn an den Seidenschnüren wieder hoch und lässt ihn unmittelbar auf eine metallene Röhre mit poliertem Knopf herabsinken, die auf dem Harzkuchen steht. Viermal wiederholt er diesen Vorgang mit geübten Handgriffen und in beeindruckender Geschwindigkeit, bis seine Studenten im trüben Licht des Novembernachmittags deutlich erkennen, wie Funken vom Deckel auf den Knopf der Röhre überspringen.
Lichtenberg nimmt jetzt die Röhre von der Platte und stäubt feines Schwefelpulver auf die Harzscheibe. Mit einer Handbewegung bittet er seine Hörer, nach vorn zu kommen, um das Wunder zu bestaunen. Denn genau dort, wo die Röhre gestanden hat, erscheint im giftig gelben Schwefelstaub «eine strahlende Sonne» auf dem Kuchen, konzentrische Ringe, die in zarten, flammenden Verästelungen enden. Je nach Versuchsanordnung ist es Lichtenberg schon gelungen, mit seinem Apparat die phantastischsten Gestalten und Muster zu erzeugen: Perlenschnüre und pflanzliche Formen, die dem Ackerschachtelhalm oder namenlosem Unkraut ähneln, und immer wieder «fast unzählige Sterne, Milchstraßen und größere Sonnen. Die Bogen waren an ihrer konkaven Seite matt, an ihrer konvexen Seite mannigfaltig mit Strahlen versehen. Herrliche kleine Ästchen entstanden, denen ähnlich, die der Frost an den
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