Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Fensterscheiben hervorbringt» [Lic 1 : 21]. Im April 1777, als Carl Friedrich Gauß auf die Welt kam, hatte er diese Erscheinungen zufällig entdeckt, weil beim Schleifen neuer Harzscheiben feinster Staub in seiner Wohnung aufgewirbelt wurde, der auf den zuvor benutzten Harzscheiben liegen geblieben ist. Diese «Lichtenberg’schen Figuren» haben ihren Entdecker in ganz Europa berühmt gemacht. * Mit ihnen hat er – so glaubt die Wissenschaftlergemeinde – das Phänomen der Elektrizität erstmals dauerhaft sichtbar gemacht.
Schon seit einem halben Jahrhundert wird in den Salons sowie auf akademischer Ebene über diese seltsame Kraft diskutiert. Es gibt zwar unterschiedliche Meinungen und Spekulationen, aber noch keine einheitlich akzeptierte Theorie der Elektrizität. «Durch die ganze körperliche Natur ist eine sehr subtile Materie verbreitet, welche den Grund und die Ursache aller elektrischen Erscheinungen enthält … [sie] entstehen durch den Übergang dieser Materie von einem Körper auf den anderen» [Fra: 6], bringt der deutsch-schwedische Physiker Carl Wilcke 1758 das damalige Wissen über Elektrizität auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Immerhin ist der Blitz inzwischen als elektrische Erscheinung unter den Gelehrten allgemein anerkannt. Da er aber nur Furcht erregt, kolossalen Schaden anrichtet und sogar Todesopfer fordert, macht man sich über den praktischen Nutzen dieser Naturkraft keinerlei Illusionen. Immerhin erfindet der amerikanische Allroundunternehmer Benjamin Franklin bei der ernsthaften Beschäftigung mit dieser Urelektrizität seinen genial simplen Blitzableiter, der einen wirksamen Schutz bietet. Wilcke konstruiert auch die Urform jenes Apparates, den später der italienische Elektrizitätsforscher Alessandro Volta entscheidend verbessert und «Elektrophor» nennt, was Elektrizitätsträger bedeutet. Mit dieser Maschine lassen sich erstmals auf Kommando relativ harmlose Hausmacherblitze erzeugen. Doch erst Lichtenberg entwickelt den Elektrizitätsträger * intuitiv zu einer Größe, bei der er wie ein Mikroskop wirkt und die in kleineren Apparaten nicht sichtbaren Figuren im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Präsentierteller serviert.
Im Vorwort seiner Übersetzung der Franklin’schen Briefe von der Elektrizität unterstützt Wilcke als einer der ersten Europäer vehement die umstrittene These Franklins «von denen zwo contrairen Elektrizitäten». Gemeint ist die positive elektrische Ladung und die negative elektrische Ladung als fundamentale Größen der elektrischen Welt. In dieser «elektrischen Algebra» sieht er die Zukunft der Elektrizitätslehre. Lichtenberg macht sich Wilckes Standpunkt zu eigen und avanciert im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gewissermaßen zum Stellvertreter Franklins in Deutschland. Er wiederholt dessen nicht ungefährliche Experimente mit steigenden Drachen bei Gewitter und stattet als einer der ersten Deutschen sein Göttinger Gartenhaus mit einem «Furchtableiter» Franklin’scher Bauart aus. Entscheidend aber ist seine Rolle als Vertreter der Lehre von den positiven und negativen elektrischen Ladungen, die er +E und –E nennt und die er in seinen Physikvorlesungen an die nächste Wissenschaftlergeneration weitergibt. Lichtenbergs Elektrophor ist der größte je gebaute seiner Art, und unter günstigen Umständen gelingt es dem deutschen Electricus , Funken von beeindruckenden vierzig Zentimetern Länge zu ziehen. Entgegengesetzte Ladungen ziehen sich an. Gleichnamige Ladungen stoßen sich ab. Durch die Reibung mit dem Katzenfell ist der Harzkuchen negativ aufgeladen. Beim Absenken des Zinndeckels auf das polierte Harz lädt sich die Unterseite des Deckels positiv und die Oberseite negativ auf. Die überschüssige negative Ladung des Deckels steht jetzt als elektrische Energie zur Verfügung. Sie kann als Funke abgeleitet oder mit dem Finger abgegriffen werden und ließe sich – falls Lichtenberg seine Zuhörer dazu animieren könnte, sich an den Händen zu fassen und eine geschlossene Kette zu bilden – als schwacher Stromstoß durch alle hundert Studenten hindurchleiten, ein beliebtes Salonkunststück des achtzehnten Jahrhunderts.
Lichtenberg verspricht nun seinen Hörern, die zumeist unsichtbaren Wege des elektrischen Feuers in der Materie nachzuweisen. Bei dieser Versuchsanordnung verkleidet er eine Glasplatte mit Blattgoldfolie und jagt den gezähmten Blitz einige Male über das Gold hinweg. Anschließend hebt er die Folie vorsichtig
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