Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Astronomie und Verfasser viel gerühmter Aphorismen. In dem Saal im zweiten Stock hält er seine Physikvorlesungen. Unvergessen bleibt der hinreißende akademische Scherz des Professors, seinen Hörern das Prinzip des «Aerostaten», eines Luftfahrzeugs, zu demonstrieren. Da trat er auf den Balkon hinaus, füllte geschickt Schweinsblasen mit Lavoisiers air inflammable und ließ sie unter den Jubelrufen der Studenten in die Luft steigen. Das geschah kurz vor dem ersten Ballonaufstieg der Brüder Montgolfier in Paris 1783. Der glückliche Carolinum-Zögling aus Braunschweig, der sich am 15. Oktober an der Georg-August-Universität immatrikuliert hat und sich nun Student der Mathematik, Philologie und Philosophie nennen darf, hat sich ausdrücklich auf Lichtenberg gefreut, den er später als «die Zierde der Universität» bezeichnen wird. Doch leider hält sich der Physiker zurzeit gerade nicht in Göttingen auf.
Den ältesten aller erhalten gebliebenen Gauß-Briefe hat der frischgebackene Student schon vier Tage nach seiner Immatrikulation an Professor Eberhard August Wilhelm Zimmermann nach Braunschweig geschickt. Bevor er aber über seine ersten Erlebnisse in Göttingen berichtet, gibt er pflichtbewusst Rechenschaft über eine Auftragsarbeit. Zimmermann hat nämlich mit Frankreich und die Freystaaten von Nordamerika ein länderkundliches Buch geschrieben und Gauß gebeten, sich die statistischen Daten in den Druckfahnen anzusehen und, wenn nötig, zu korrigieren. Mit dem untrüglichen Blick für logische Widersprüche schreibt er gleich zu Beginn des Briefes: «Die Volksmenge von Delaware von 59 094 stimmt nicht mit der Specialtabelle … überein, wo sie 67 981 ist. Vermutlich hat man sich darin geirrt, daß man die Anzahl der Nichtsclaven (67 981 – 8887 = 59 094) mit der gesamten Volksmenge verwechselt hat» [Zim 1 : 19].
Wie im Rausch muss er sich in dieser ersten Woche durch die Mitteilungsbände der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften gearbeitet und dabei die niederschmetternde Erkenntnis gewonnen haben, dass schon andere kluge Köpfe vor ihm zu den gleichen Einsichten gekommen sind wie er: «Ich kann nicht läugnen», schreibt er an Zimmermann, «daß es mir sehr unangenehm ist zu finden, daß ich den größten Theil meiner schönen Entdeckungen in der unbestimmten Analytik nun zum zweiten Male gemacht habe.» Immerhin bleibt er selbstbewusst genug, um trotz der Ernüchterung seine Sonderstellung zu erkennen und die Herausforderung anzunehmen: «Was mich tröstet ist dieses. Alle Entdeckungen Früherer, die ich bis jetzt gefunden habe, habe ich auch gemacht, und noch einige mehr. Ich habe einen allgemeinern und wie ich glaube natürlichern Gesichtspunkt getroffen: ich sehe noch ein unermeßliches Feld vor mir …» [Zim 1 : 20].
Gauß’ Mathematikprofessor Abraham Gotthelf Kästner ist bereits seit 40 Jahren Professor für Mathematik und Physik an der Universität Göttingen und hat zahlreiche Lehrbücher veröffentlicht. Schon als Gymnasiast hat Gauß sich Kästners Bände über Arithmetik und Geometrie selbst angeschafft und durchgearbeitet. Als er den Siebenundsiebzigjährigen nun persönlich im Hörsaal erlebt, glaubt er zunächst, es mit einem «stumpfen Greis» zu tun zu haben. Bald jedoch revidiert er dieses erste Urteil und nennt ihn einen «vortrefflichen Mann». Kästner hat sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Geist der Aufklärung um die Popularisierung der Mathematik verdient gemacht. Inzwischen aber hat er seinen Zenit überschritten. In einem halben Jahr wird Gauß in einer äußerst wichtigen Angelegenheit feststellen, dass sein erster Eindruck von Kästner wohl doch eine treffsichere Wahrnehmung gewesen ist. Vom Altphilologen Christian Gottlob Heyne, dem Begründer der modernen Altertumswissenschaft, fühlt er sich gut aufgenommen. Denn könnte es eine bessere Empfehlung geben, als ein bevorzugter Eschenburg-Schüler vom Braunschweiger Collegium Carolinum zu sein? Und warum er schließlich den Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren, dessen Kolleg er besucht, im Brief an Zimmermann einen «ungemein liebenswürdigen und gefälligen Mann» nennt, bringt Martha Küssner in ihren Nachforschungen ans Tageslicht. Sie hat die alten Ausleihregister der Universitätsbibliothek durchgesehen und ist dabei auf den Umstand gestoßen, dass Professor Heeren als Mitglied der Bibliothekskommission die begehrten «Cavets» für Gauß’ erste Buchentleihungen ausgestellt hat. Das
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