Gauß: Eine Biographie (German Edition)
sind Bürgscheine, die jeder Student – es sei denn, er ist ein Graf – bei einer vierzehntägigen Ausleihe hinterlegen muss.
Die Ausleihe an Studenten ist ein nicht gerade zeittypisches Privileg, denn die meisten deutschen Universitäten verleihen ihre Bücher normalerweise nur an Professoren und «berühmte Besucher» [Küs 1 : 49]. Ein Glücksfall also für Gauß, der, mit einem herzoglichen Stipendium für drei Jahre versehen, jetzt nach Herzenslust Bücher in sein neues Zuhause schräg gegenüber in der Gothmarstraße 11 tragen kann, um seine eigenen akademischen Forschungen zu betreiben. Ständig werden die neuesten Bücher der wichtigsten Mathematiker angeschafft. Und der Zugriff auf die vollständig versammelten Jahrgänge der Akademieberichte aus den europäischen Hauptstädten erschließt ihm die Mathematikgeschichte des 18. Jahrhunderts und die Entwicklung der Naturwissenschaften. Enttäuscht vom Niveau der Kästner’schen Mathematikvorlesungen, findet er in der Universitätsbibliothek die neuesten Arbeiten von Lagrange und Euler weitaus inspirierender. An der intellektuellen Vorgabe dieser Geistesgrößen muss er sich messen, an ihren Entwicklungen muss er sich reiben, wenn er seiner Intuition folgen und einen strengeren Beweis für den Fundamentalsatz der Algebra finden will als Euler selbst. Was kümmert ihn ein ordnungsgemäßes Mathematikstudium, die Mitschrift der Kästner-Vorlesungen, der regelmäßige Besuch der Seminare, wenn er selbst Mathematikgeschichte schreiben kann?
«… und überhaupt kann man sagen, dass wenn der Göttingische Bürger und sein Schwein einander wechselweise zu Gaste hätten, beide Parthien, jede gleich zufrieden mit dem Tractement, von einander scheiden würden» [Hoc: 88]. So klagt der Schweizer Gourmet Carl Friedrich August Hochheimer 1791 über das Niveau der bürgerlichen cuisine in der Universitätsstadt. Herzog Carl Wilhelm Ferdinand hat 48 Taler jährlich für Carls Freitisch bewilligt. Dieses Geld wird nicht an ihn selbst, sondern an die Universitätskasse ausgezahlt, die direkt mit den Traiteuren abrechnet. Das sind ausschließlich für Studenten kochende Speisewirte. Sie liefern ihnen täglich, auch sonntags, ein Mittagessen aufs Zimmer. Welche Essensqualität ein Student bei einem Freitisch im Wert von 48 Talern jährlich erwarten darf, lässt sich mit einem Blick auf die Monatsrechnungen einschätzen: «Die Preise … lagen normalerweise für den Mittagstisch zwischen zwei bis drei und sieben Talern monatlich; wer reich war, konnte für fünfzehn Taler wirklich gut essen» [Brü: 310]. Mit dem Stipendium von 150 Talern ist Carl Friedrich Gauß nach damaligen Maßstäben großzügig ausgestattet. Da er die vom Vater ständig vorgelebte Sparsamkeit verinnerlicht zu haben scheint, muss er nicht – wie etwa der von seiner wohlhabenden Mutter kurzgehaltene Newton – den Dienstboten für reiche Studenten spielen, um über die Runden zu kommen.
In einer anonymen Flugschrift beschreibt ein Göttinger Student den Freitisch in den 1790er Jahren als ein aus vier «Schüsseln» bestehendes Menü, Brot und Bier inklusive, «das allerwiderwärtigste Getränke, das man sich denken kann … Wenn man ein Glas ausgeleert hat, so bleibt nicht nur ein ekelhafter Satz auf dem Boden zurück, sondern die Seiten des Glases werden auch undurchsichtig», schimpft Hochheimer. Ein typisches Winteressen ist: «1. Wässrige Milch abgesotten; 2. Erbsen mit ½ Häring; 3. Gedörrte Zwetschen mit Eierkuchen; 4. Hasenbraten mit Kartoffelsalat. – Ein Sonntagsmenü im Sommer: 1. Elende Fleischbrühe; 2. Acht Stück Spargel, von denen nur die Spitzen genießbar sind; 3. Drei Krebse; 4. Eine gebratene Taube … Kartoffeln im Kochwasser schwimmend, waren häufig ein Gang. Derbe Gemüse wie Kohl, gelbe Rüben, Möhren und Bohnen wurden naturell oder mit minderem Fett und Fleisch halbgar geliefert, so daß sie beim Kauen zwischen den Zähnen knackten» [Küs 1 : 47]. Die Traiteure scheren sich offenbar nicht um den signifikanten Unterschied zwischen halbgar und al dente . Selbst der von Kindheit an deftige Hausmannskost gewohnte Gauß kann sich als Kommentar zur Qualität seines Freitischs gegenüber Zimmermann nur ein «leidlich» abringen.
Es riecht ziemlich brenzlig in dem großen Saal auf der ersten Etage des Eckhauses Gothmarstraße/An der Mühlenpforte, während von den abgewetzten Holzdielen allmählich der Muff von 200 regennassen Stiefeln aufsteigt. Vor wenigen Minuten hat es
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