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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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Oktober 1795 wandert Carl Friedrich Gauß durch das westliche Petritor aus seiner Heimatstadt hinaus und tritt den 100 Kilometer langen Weg nach Göttingen an. Hinter Goslar nimmt er die ersten Anhöhen, bis er beim Erreichen der Harzer Bergbaustadt Clausthal ungefähr die Hälfte seiner Wanderung bewältigt hat. Während Carl sich also auf seiner Wanderung nach Göttingen befindet, tauschen Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller Briefe über eine sensationell klingende These aus. Der führende deutsche Anatomieprofessor Samuel Thomas Soemmerring behauptet nämlich, endlich das «Organ der Seele» lokalisiert zu haben. Die Flüssigkeit, in der das Gehirn schwimme, sei angeblich das einzige Medium, das mit allen Hirnnerven in Kontakt stehe. Deshalb komme allein das «Gehirnwasser» als Seelenorgan in Frage. Eigentlich gilt Wasser in flüssigem Aggregatzustand nicht mehr als chemisches Element, seit im Revolutionsjahr 1789 der französische Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier den experimentellen Beweis dafür erbracht hat, dass Wasser sich in die Gase Wasserstoff und Sauerstoff spalten lässt, die in diesen Tagen als «Luftstoffe» bezeichnet werden.
    Soemmerring hält seine Überzeugung für bedeutsam genug, um noch vor der Veröffentlichung Auszüge und Abschriften seiner Arbeit an Kant und Goethe zu schicken. Und Humboldt, wie immer gut informiert, lässt Schiller an der frohen Botschaft teihaben, die Seele sei vermutlich eine Art «organisiertes» Fluidum hinter seiner Denkerstirn. Immanuel Kant erklärt sich bereit, ein Nachwort zu Soemmerrings Essay * zu schreiben, in dem er auch kurz auf den metaphysischen Schock eingeht, den Lavoisier jüngst mit der Verletzung des aristotelischen Wasserreinheitsgebots ausgelöst hat: dass Wasser, dieser Urbegriff des Nassen, sich in die brennbare Luft, Lavoisiers air inflammable oder Wasserstoff, und in die zu atmende Luft, air respirable oder Sauerstoff, spalten lasse.
    Nach der bemerkenswerten Verwandlung des Urflüssigen «in zwey verschiedene Luftarten» will nun auch Kant der offenbar doch komplexeren physikalischen Wirklichkeit nicht länger hinterherhinken und schließt weitere Überraschungen nicht mehr aus. So könne sich, spekuliert er über zusätzliche Bestandteile des Wassers, in den beiden Luftarten etwa noch der «Wärmestoff» verbergen, in dem er wiederum den Einschluss des «Lichtstoffs» für möglich hält, der sich seinerseits in die Spektralfarben scheiden lasse. Und so schlägt Kant schließlich, ausnahmsweise sprachlich durchsichtig, den Bogen zum Gehirnwasser: «Nimmt man noch dazu, was das Gewächsreich aus jenem gemeinen Wasser für eine unermessliche Mannichfaltigkeit von zum Theil flüchtigen Stoffen, vermuthlich durch Zersetzung und andere Art der Verbindung hervorzubringen weiß: so kann man sich vorstellen, welche Mannichfaltigkeit von Werkzeugen die Nerven an ihren Enden in dem Gehirnwasser … vor sich finden, um dadurch für die Sinnenwelt empfänglich und wechselseitig wiederum auch auf sie wirksam zu sein» [Soe 1 : 247].
    Während Soemmerring in Mainz noch auf kollegiale Anerkennung seiner fulminanten These hofft, kippen Anatomen, Physiologen und Pathologen anderenorts das kostbare, informationsgeladene Gehirnwasser, wie gewohnt, achtlos weg, wenn sie etwa eine Wucherung aus dem Gehirn eines toten Patienten herausschneiden und präparieren wollen. In Göttingen empfiehlt Friedrich Benjamin Osiander, Professor für Medizin und Entbindungskunst, dieser Tage sogar gründliche Spülungen künftiger Hirnpräparate mit lauwarmem Regen- oder Schneewasser. Nach Osianders sorgfältiger Behandlung des Gehirns mit diesen profanen Flüssigkeiten bleibt kein Tropfen des Soemmerring’schen Seelenwassers mehr zurück. Anschließend jedoch wird das ausgelaugte Organ – gewissermaßen als Entschädigung für die Entseelungsdrainage – wieder in ein hochprozentig «organisiertes» Fluidum eingelegt, das man durchaus «spirituell» nennen könnte: Spiritus vini , Weingeist von Korn-, Zwetschgen- oder Kirsch-Destillat.

    Seine erste Unterkunft findet Gauß bei einem Schneider namens Blüm in der Gothmarstraße 11 mitten im Herzen von Göttingen, nur ein paar Dutzend Schritte von der Universitätsbibliothek entfernt. Wenn Carl aus dem Haus seines Wirtes tritt, sieht er schräg gegenüber der Haustür ein mächtiges, zweistöckiges Fachwerkhaus an der Ecke Gothmarstraße/Prinzenstraße. Hier wohnt Georg Christoph Lichtenberg, Professor für Physik und

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