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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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ab und hält sie gegen ein Kerzenlicht. Das Gold musste der Gewalt des elektrischen Blitzes weichen. Aber der hat eine Spur hinterlassen: Pfade schwärzlichen Metallstaubs, der mit winzigen Goldfäden bestreut ist. So ist ein Netzwerk kleinster Quadrate entstanden, das deutlich erkennbar ins Blattgold eingeritzt ist [Fra: 30; 101]. Zum Schluss der Vorlesung wie immer das obligatorische Feuerwerk: Ein paar rasche, verdeckte Handgriffe, und in einem Glasbehälter verbrennt eine stählerne Uhrfeder im elektrischen Feuer, das so hell strahlt, «dass ich auf acht Schritte in den Göttingischen gelehrten Anzeigen lesen konnte» [Lic 2 : 350]. Da nimmt offenbar jemand Thomas Alva Edisons großartige Idee vorweg, während im nächsten luftleeren Glaszylinder bereits ein blendendes Purpurlicht aufleuchtet. Immer wieder amüsiert sich Lichtenberg über das kindlich naive Staunen und die offenen Münder, die dieses «anspruchslose Spielwerk» auslöst. In ein drittes Glas, das mit «Knallluft» oder Wasserstoff gefüllt ist, leitet Lichtenberg über einen Draht elektrische Energie hinein, was den gewaltigsten Knall des heutigen Tages provoziert. Die Versuchsanordnung nennt sich «Elektrische Pistole» [Hoa: 269] und ist ein Geniestreich seines italienischen Kollegen Alessandro Volta, der zurzeit gerade fieberhaft an einem Speicherungsverfahren für elektrische Energie arbeitet.
    Der Göttinger Electricus wagt als einer der ersten Experimentalphysiker Deutschlands die Grätsche zwischen seriöser Wissensvermittlung und dem Budenzauber, den die populären «Elektrisierer» auf Jahrmärkten veranstalten. Er muss unternehmerische Qualitäten entwickeln und selbst dafür sorgen, dass ihm genügend Studenten Kolleggeld – Grafen zahlen das Doppelte – ins Haus bringen, wo er mit seinen elektrischen Maschinen, seiner Frau Margarete und zahlreichen Kindern lebt. Spektakuläre Darbietungen sprechen sich herum und treiben ihm neue Kunden ins Haus. Unter den eingeschriebenen Hörern der experimentalphysikalischen Vorlesungen, die jetzt die Treppe wieder hinunterpoltern, vorbei an der Druckerwerkstatt und hinaus in den trüben Novemberabend, befindet sich auch ein Student aus Braunschweig, der nur die Straße überqueren muss, um wieder in seine Studierstube zu kommen. Vier Jahrzehnte nach diesem ersten Besuch einer Lichtenberg’schen Vorlesung wird er die mit der «elektrischen Algebra» begonnene Mathematisierung der elektrischen Kraft mit einer allgemeingültigen Aussage krönen, die seinen Namen tragen wird: das Gauß’sche Gesetz der Elektrizität.

    Die Osterferien verbringt Gauß daheim in Braunschweig. Anstrengende, aber lohnende sechs Monate der Versenkung in Eulers Zahlentheorie liegen hinter ihm. Die Lektüre von Adrien Marie Legendre, Bernoulli und Stirling hat ihm geholfen, sich ein Bild vom aktuellen Stand der Zahlentheorie zu machen. Allmählich reifen die ersten Früchte. Am Mittwoch, den 30. März 1796, geschieht etwas Außergewöhnliches. Carl Friedrich Gauß besorgt sich, vermutlich in einer Braunschweiger Buchhandlung, ein kleines Notizheft, das bequem in der Hand liegt. Unbeschriebenes Papier. Der pure Luxus. Was ist passiert? Gestern früh ist ihm, noch im Bett liegend, eingefallen, wie er Euklids Familie konstruierbarer, regelmäßiger Vielecke erweitern kann. Mehr als zwei Jahrtausende sind vergangen, seitdem der griechische Mathematiker die Konstruktion solcher geometrischer Figuren gelehrt hat. Das gleichseitige Dreieck und das Quadrat gehören dazu, deren Seiten alle gleich lang und deren Winkel alle gleich groß sind. Acht-, Zehn- und Zwölfeck waren den alten Griechen auch schon bekannt. Bisher ist aber noch jeder gescheitert, der versucht hat, darüber hinaus neue regelmäßige Vielecke zu konstruieren. Bis an diesem Dienstagmorgen nach den Osterfeiertagen ein knapp neunzehnjähriger Student der Altphilologie und Mathematik weit über Euklid hinausdenkt. Gauß hat den Beweis erbracht, dass man mit Zirkel und Lineal ein Siebzehneck konstruieren kann. Wenn das nicht einen Eintrag in ein jungfräuliches Oktavheft wert ist. Zwar spielt ein regelmäßiges Siebzehneck in unserem Alltag überhaupt keine Rolle, doch glücklicherweise kümmert sich die Mathematik nicht in erster Linie um Anwendbarkeit, Zweckdienlichkeit und Alltagstauglichkeit. Den Mathematikern geht es um den Entwurf neuer Welten und um die Entdeckung zuvor nicht für möglich gehaltener Zusammenhänge. Darin ähnelt sie der Kunst. Und der junge

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