Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Stunden – so lange, wie die Erde braucht, um sich einmal um sich selbst zu drehen. Aus diesem Grund befände sich beispielsweise ein Stern, der vom Nullmeridian oder Frühlingspunkt aus gesehen so weit östlich liegt wie der Berliner Reichstag von Greenwich, rund 52 Minuten «östlich» vom astronomischen Nullmeridian. * Und so, wie der Breitengrad eines Ortes auf der Erde seinen nördlichen oder südlichen Abstand zum Äquator angibt, lässt sich in der beobachtenden Astronomie auch der Abstand eines Sterns zum gedachten Himmelsäquator in «himmlischen Breitengraden» bestimmen. Gemessen wird dabei der Winkel zwischen Himmelsäquator, Erdmittelpunkt und dem Stern. Wie auf Erden, so am Himmel.
Mit solchen Beobachtungen und Berechnungen hat auch Gauß täglich zu tun. Jetzt, da die neue Sternwarte am Geismar-Tor endlich weitergebaut wird, kann er sich Gedanken über die Anschaffung wichtiger neuer Instrumente machen. Er kennt ja die Stärken und Schwächen der vorhandenen Apparate, nimmt Kontakt zu den führenden deutschen Instrumentenbauern in Hamburg und München auf, stellt Anträge bei der Universitätsverwaltung und tauscht sich mit Olbers, Bessel und Schumacher über die optimale Zusammenstellung von Geräten aus. Für einen neuen empfindlichen Theodoliten etwa lässt er eigens ein neues Fundament errichten, bestimmt den Mittelpunkt des Gebäudes auf einen halben Millimeter genau und markiert ihn durch ein kleines «Grübchen» in einer Steinplatte. Zu seinem Alltagsgeschäft gehören Positionsbestimmungen von Gestirnen und Messungen der Sonnenhöhe. Doch stellt sich bald heraus, dass es ihm gar nicht in erster Linie darum geht, möglichst umfangreiches Beobachtungsmaterial zu sammeln. Er will die Messungen grundsätzlich perfektionieren und interessiert sich deshalb mehr für die Ursachen seiner eigenen Messfehler und für die Abweichungen von den Beobachtungen seiner Kollegen.
In den Monaten, als Napoleons Stern allmählich verblasst, seine grande armée in Russlands Schnee- und Schlammwüsten versinkt und der Imperator nach der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig in eine Dauerschieflage gerät, befasst Gauß sich mit einer bekannten astronomischen Schieflage. Die Ebene der Erdumlaufbahn um die Sonne ist nämlich um einen Winkel von etwa 23,4 Grad gegen den Himmelsäquator geneigt. Für den rechnenden Astronomen ist dieser Wert von besonderer Bedeutung, weil er eine Standardgröße ist, die im Lauf vieler astronomischer Rechenverfahren ins Spiel kommt. Weichen die Messungen stark vom Durchschnittswert ab, pflanzen sich die Fehler fort und führen zu problematischen Resultaten. Es wurmt Gauß, dass seine Messergebnisse um 4 bis 5 Sekunden von den Beobachtungen abweichen, die Piazzi in Palermo oder Bessel in Königsberg macht. Die Astronomengemeinde ist mit dem Phänomen vertraut und kann sich die auffälligen Unregelmäßigkeiten in den Messwerten der Erdbahnneigung nicht erklären. Abgesehen von Konzentrationsschwächen, Nachlässigkeiten und Instrumentenfehlern vermutet Gauß, dass Sonnenwärme sich negativ auf die Funktion seines Teleskops auswirken könnte, denn im Sommer sind seine gemessenen Winkel der Erdbahn zum Äquator größer als im Winter. Aber auch mit einer perfekten Abschirmung des Fernrohrs gegen die Sonne lassen sich die Schwankungen nicht ausgleichen. Schließlich hängt er sogar ein Gewicht an sein Teleskop.
Währenddessen meldet Bessel, der sowohl von Olbers als auch von Gauß als Deutschlands größter praktischer Astronom anerkannt wird, aus Königsberg keinerlei Probleme mit der Messung der Erdbahnneigung. Seine Werte zur Sommersonnenwende stimmen mit denen zur Wintersonnenwende stets perfekt überein. Aus kleinen Randbemerkungen im Briefverkehr zwischen Gauß und Olbers lassen sich erste leise Zweifel an Bessels Messverfahren heraushören. Kaum merklich bilden die alten Freunde eine heimliche Koalition gegen Bessels unheimliche Erfolgsmeldungen. Die Vorbehalte werden vermutlich auch von uneingestandener Eifersucht geschürt. Warum sollte Bessel gelingen, was Gauß Probleme bereitet? Zeitweise führt die Skepsis gegen die zu harmonisch klingenden Werte sogar dazu, dass die Briefe von Göttingen nach Königsberg spärlicher werden. Worüber Bessel sich bei Olbers beklagt. Der gibt ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit einen Tipp, da er es nicht ertragen kann, dass sich seine beiden liebsten Freunde wegen minimaler Messabweichungen entzweien. Es kommt zur Aussprache zwischen
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