Gauß: Eine Biographie (German Edition)
empfindet. Nein – jetzt schwingt er sich zu einer großen Abstraktion auf. Er stellt nämlich eine allgemeine Methode zur Berechnung der Anziehungskraft vor, die ein elliptischer Ring auf einen beliebigen Punkt im Raum ausübt. Die Masse des störenden Planeten wird dabei so aufgefasst, als sei sie gleichmäßig auf alle Abschnitte seiner elliptischen Umlaufbahn verteilt. Wie bei seiner Bewegungstheorie geht es auch hier um eine höchst genaue Berechnung und nicht etwa nur um eine Annäherung. Bessel jubelt: «Wie glücklich sind Sie, alles gestaltet sich neu unter Ihren Händen, und so, dass man Ihre Schriften nur mit der Überzeugung, dass dadurch die Kraft des menschlichen Geistes erschöpft worden ist, aus den Händen legen kann» [BGB: 280]. Auch seinen geliebten arithmetischen Untersuchungen wendet Gauß sich in diesen Zeiten der Frustration über die Beobachtungsfehlschläge wieder zu. «Sie gehören zu der Gattung derjenigen, wo man nicht im voraus sagen kann: diess will ich thun, sondern wo, vielleicht nach 999 misslungenen Versuchen, eine glückliche 1000ste Combination zum Ziele führt», schreibt er an Bessel [BGB: 247]. Es sei ein langes Brüten über ein Problem, das viel Muße erfordere, da man nicht mit unmittelbaren Resultaten rechnen könne. Immerhin lässt Gauß sich wieder auf die Höhere Arithmetik ein. Es geht um die sogenannten «biquadratischen Reste». Noch ist alles in der Schwebe, und er zeichnet nur die Ideen auf, damit sie nicht verloren gehen.
Ende 1813 wirkt sich Napoleons Schieflage auch auf Göttingen aus. König Jérôme Bonaparte wird von Kosakentruppen aus Kassel vertrieben, das französisch verwaltete Königreich Westphalen aufgelöst und das ehemalige Kurfürstentum Hannover als Königreich etabliert, zu dem auch Göttingen gehört. König von Hannover ist bis 1837 in Personalunion der König von England. Die neue Regierung forciert nun den Bau der Sternwarte. Universitäts-Baumeister Georg Heinrich Borheck greift Ideen von Schröter aus Lilienthal und von Zach aus Gotha für die Architektur der Sternwarte auf. Das Beste dieser beiden berühmtesten deutschen Sternwarten hat Borheck hier, vor den Toren Göttingens, vereinen wollen und die Anweisungen Schröters und Zachs über die Aufstellung der Instrumente in die Tat umgesetzt. Der Mittelbau besteht aus einer Rotunde, über die sich eine Drehkuppel wölbt, die allerdings nur der Zierde dient. Flankiert wird der Rundbau von zwei Beobachtungsräumen, während die beiden Seitenflügel als Arbeits- und Wohnräume benutzt werden. Baumeister Borheck schreibt über seine eigene Arbeit: «Die äußere Fassade der Wohnung hat bei ihrer Simplizität doch etwas Gefälliges und deutet auf einen Bewohner, der nicht in Geräusch und großen Verhältnissen, sondern in einer gewissen häuslichen Zufriedenheit lebt und seine Zeit den Wissenschaften widmet» [Gre: 21].
Im Oktober 1816 ist die Göttinger Sternwarte so weit fertiggestellt, dass Gauß mit Frau und fünf Kindern in den Wohnflügel ziehen kann. Wilhelm, ein weiteres Patenkind von Wilhelm Olbers, ist am 23. Oktober 1813 geboren, und Therese ist beim Umzug gerade erst vier Monate alt. Mutter Minna ist «wohlauf». Mit Einbruch der kalten Jahreszeit ist alles noch ein wenig feucht und ungemütlich. Der Astronom Lindenau aus Gotha empfiehlt, gut zu heizen. Zu Weihnachten ist Gauß enttäuscht. Er hat die Unbequemlichkeit, in eine halbfertige, noch feuchte Wohnung zu ziehen, auf sich genommen, weil er mit seinen neuen Instrumenten endlich vernünftige Wissenschaft treiben wollte. Und nun meldet Mechanikus Repsold, die Arbeit am Gerät verzögere sich um ein weiteres halbes Jahr. Im Februar 1817 hat Gauß dann bereits ein entspannteres Verhältnis zu den feuchten Räumen gewonnen. Dem Freund und Mediziner Olbers vertraut er an, sich bei Regen, Wind und Schnee am wohlsten zu fühlen. Sommerhitze sei ihm generell zuwider. «Allein nicht bloß mir, sondern auch meiner Frau und meinen Kindern bekommt der Aufenthalt vortrefflich, während meine Bücher, meine Tapeten, meine Möbel, meiner Frau Eingemachtes etc. mit Schimmel überzogen wird» [Olb1: 643].
Den Vorwurf, die Sternwarte stehe nicht auf dem Steinkopfhügel, sondern davor , was den Horizont des Observatoriums einschränken könne, hat Zach zwar vehement mit allerlei Zahlenwerk zurückgewiesen und den Vorteil ins rechte Licht gerückt, eine leicht zu Fuß erreichbare Lehranstalt für die Studenten zu schaffen. Doch schon bald
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