Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Nervenstrang, «dessen einzelne Fäden auf gleiche Weise jeden erhaltenen Empfindungs-Eindruck im Allgemeinen, so wie den des kleinsten electrischen Fünkchens im Besonderen, isoliert und ungestört bis ins Gehirn fortpflanzen» [Soe 2 : 227]. So wie Soemmerring seinen Auftritt bei Napoleon gehabt hat, wäre wohl auch Carl Friedrich Gauß bei einem Besuch der französischen Kollegen in Paris nicht um eine Audienz beim Kaiser herumgekommen. Laplace hätte es sich nicht nehmen lassen, eine Begegnung mit dem Welteroberer zu arrangieren, der die Bedeutung von Mathematik und Naturwissenschaften für seine Feldzüge sehr wohl erkannt hat. Gauß korrespondiert gelegentlich mit Laplace, schreckt aber vor einer Reise nach Paris, wie Olbers sie ihm geradezu aufdrängt, zurück. Mit Napoleon will er nichts zu tun haben. Der Herzog von Braunschweig ist im Kampf gegen dessen Heer tödlich verwundet worden, und noch immer hegt Gauß einen Groll gegen den Diktator, weil er seine Heimat besetzt und nicht nur seine junge Familie in existenzielle Nöte gestürzt hat, sondern den ganzen Kontinent seiner Machtgier unterworfen hat. Aber Napoleon Bonaparte hat trotz seiner Begeisterungsfähigkeit für die Naturwissenschaften im Herbst 1812 ohnehin Wichtigeres zu tun, als einen renitenten deutschen Mathematiker zu empfangen. Russland muss noch in die Knie gezwungen werden.

9. Wie auf Erden, so am Himmel
    In der praktischen Astronomie stellt man sich den zu beobachtenden Himmel als eine Kugel vor. Und so wie die Geographen die Erdkugel mit einen Äquator, Längengraden – auch Meridiane genannt – und Breitengraden versehen haben, um ihre Berechnungen zu veranschaulichen, so bedient man sich auch bei der gedachten Himmelskugel solcher Hilfslinien. Auf der Erdkugel verläuft einer dieser Meridiane, die am Südpol beginnen und am Nordpol enden, durch den Londoner Stadtbezirk Greenwich. Die Astronomen haben ihn zum «Nullmeridian» bestimmt, um einen Ausgangspunkt für ihre Berechnungen zu haben. * Alle Orte auf der Erde befinden sich östlich oder westlich des Nullmeridians von Greenwich. So steht etwa der Reichstag in Berlin auf 13 Grad, 22 Bogenminuten und 33 Bogensekunden östlicher Länge. Die berühmte Leiter am Nordgrat des Mount Everest liegt auf 86° 54’ 61’’, das Olympiastadion von Sydney auf 151° 03’ 48’’. Und bei den Fidschi-Inseln im Pazifik stoßen dann der östlichste Längengrad und der westlichste Längengrad mit jeweils 179° 59’ 59’’ aneinander. Der Waikiki-Strand von Honolulu liegt auf dem 157. westlichen Längengrad, «Ben’s Chili Bowl» – die legendäre Würstchenbude in Washington – auf dem 77. und das Casino «Bellevue» im französischen Biarritz auf dem 1. Längengrad westlich von Greenwich. Mit einer Umrundung des Planeten ist auch ein Kreisdurchlauf von 360 Grad vollendet.
    Aber die Angabe 13° 22’ 33’’ O – für östliche Länge – genügt nicht, um den versammelten deutschen Volksvertretern bei der Arbeit zuzusehen. Denn auf diesem Längengrad liegt zum Beispiel auch ein ganz aparter Fjord in der Nähe des nordnorwegischen Soefjorden, die malerische Absteige «Paradiso» in Palermo und ziemlich unübersichtliches Buschwerk am Rand eines Trampelpfads im Kissama-Nationalpark von Angola. Noch unendlich viele weitere Orte zwischen Süd- und Nordpol lassen sich auf diesem speziellen Meridian östlich von Greenwich lokalisieren. Erst mit der Angabe des Breitengrades ist die Position eines Ortes auf der Erde vollständig bestimmt. Der Breitengrad misst den südlichen oder nördlichen Abstand eines Ortes vom Äquator. Mit 52° 31’ 07’’ N – für nördliche Breite – sind jetzt die Koordinaten für die Reichstagskuppel komplett. Gemessen wird dabei der Winkel zwischen Äquator, Erdmittelpunkt und dem gesuchten Ort.
    Auch auf der gedachten Himmelskugel gibt es Meridiane, die vom virtuellen Himmelssüdpol ausgehen und am Himmelsnordpol, knapp über dem Polarstern, enden. Und auch hier haben sich die Astronomen auf einen Nullmeridian geeinigt. Er verläuft durch den sogenannten Frühlingspunkt. Das ist der Ort am Himmelsäquator, wo sich die Sonne, von der Erde aus gesehen, am 21. März mittags um 12 Uhr befindet. Auch für ein stellares Objekt lässt sich der Längengrad oder Himmelsmeridian bestimmen. Er wird ebenfalls vom Nullmeridian aus gemessen, allerdings in Zeiteinheiten und nicht in Kreisgraden. Eine Umrundung des Himmelsäquators entspricht daher nicht 360 Grad, sondern 24