Gebannt: Band 3 (German Edition)
fragte er mit bebenden Lippen.
» Sie ist das Herz des Keshet, James. Sie ist Violet.« Das war alles, was sie aufbringen konnte. Das Beste, was sie als Erklärung für das, was vor ihnen lag, bieten konnte. Sie hatte ihm zuvor bereits Geschichten vom Regenbogen erzählt. Sie hoffte, er würde sie eines Tages Violet erzählen.
» Violet.« Er nickte und wischte sich über sein tränenüberströmtes Gesicht.
» Schon gut«, versicherte sie.
James blickte den Arzt an und sah wie aus weiter Ferne, dass er ein leichtes Kopfschütteln erwiderte. Sein Herz sank in eine Tiefe, die er nie zuvor gekannt hatte.
» Ich liebe euch beide.«
» Wir lieben dich, Evelyn«, flüsterte James.
Er war von dem Moment, als es vorbei war, für sie da, und er blieb während der Reise bei ihr. Später kehrte er zu dem Kind zurück, das Evelyn Violet genannt hatte, und ließ den Teil von sich selbst bei ihr, den er nur einmal geben konnte.
Alles, was er jetzt tun konnte, war … warten.
Kapitel Eins
» Die Erinnerung kann ein Paradies sein, aus dem wir nicht vertrieben werden können, aber ebenso eine Hölle, der wir nicht entkommen können.«
John Lancaster Spalding
Sanfte schwarze Linien bluteten aus mir heraus – meine Seele sprach zu mir, eine verzweifelte Bitte um Erlösung. Kohle war nicht mein bevorzugtes Medium, aber neuerdings schien es mir angemessen. Ich stand mit dem Rücken zum Fenster, und die Sonne zeichnete einen hellen Schein um meinen Schatten, der au f das verbleibende Weiß meiner Leinwand fiel. Darüber hinaus schnitt die Kohle kräftigere, schärfere Linien, während ich mich in meine Arbeit vertiefte und mich darin verlor. Diese Wirkung hatte die Kunst au f mich – sie ließ die Zeit beinahe stillstehen.
Beinahe.
Ich hatte mich verändert, auch wenn ich mich bemühte, es nicht zu zeigen. Mich selbst konnte ich nicht täuschen. Das Einzige, was ich tun konnte, war, mich an die Regeln zu halten. Das war das einzig Mögliche. Schule, Training – und Nachforschungen, wenn ich dazu in der Lage war. So hatte ich das Gefühl, die Kontrolle zu behalten, was nie so wichtig gewesen war wie jetzt – und nie so zerbrechlich. Die vergangenen Ereignisse hatten Tatsachen geschaffen, die wir nicht verleugnen konnten. Phoenix hatte, was wir wollten, und wir hatten das, wofür er bereit war, alles zu tun, um es zu bekommen. Und wenn ich dabei sterben sollte? Na ja, er würde das wahrscheinlich als wohlverdienten Sieg betrachten.
Das hieß nicht, dass ich es ihm leicht machen wollte. Wenn die Grigori-Schrift in den Händen der Verbannten bliebe, würde eine unfassbare Zahl unschuldiger Leben au f dem Spiel stehen. Also blieb uns nichts anderes übrig, als au f seinen vorgeschlagenen Handel einzugehen. Das war alles andere als ideal. Wenn wir Phoenix die Schrift der Verbannten aushändigten, würde er etwas so Zerstörerisches tun, dass wir uns den Preis dafür nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten.
Oder wie viele ihn bezahlen müssten.
Wie berechnet man den Preis, den man bezahlen muss, wenn die Mutter der Finsternis aus der Hölle aufersteht?
Ich schmeckte den Apfel – süß und jung –, roch die Blumen – so schwer von Pollen, dass die Luft ganz dick wurde. Ich zuckte zusammen, weil sie so nah waren, aber ich reagierte langsam, weil ich noch immer in meine düsteren Gedanken versunken war – die Kohlestriche waren jetzt starr und angestrengt. Auch das Flügelschlagen setzte ich zusammen mit dem Aufblitzen von Morgen und Abend au f meiner Staffelei um.
Endlich wurde ich durch Miss Kinkaids unverwechselbares Räuspern aufgeschreckt. Sie beugte sich über mein Kunstwerk. Ich brauchte nicht zu raten, weshalb.
» Ähm, Violet …«
Aber jetzt, wo ich mir meiner Umgebung wieder bewusst geworden war, begannen in meinem ganzen Körper die Alarmglocken zu schrillen.
Verdammt, nicht schon wieder.
Griffin würde verärgert sein.
» Miss Kinkaid, Sie müssen vom Fenster weggehen«, sagte ich und schnitt ihr das Wort ab, bevor sie mit ihrer Kritik anfangen konnte. Ich war bereits aufgestanden und holte ein paarmal tie f Luft, um meine engelhaften Sinne zu beruhigen. Es war schon schlimm genug für normale Grigori, die einen, gelegentlich auch zwei Sinne hatten. Ich war die Erste, die über alle fün f verfügte – und das war mehr als anstrengend.
» Ich, na ja … wie bitte?« Sie schlug sich die Hand vor die Brust, als hätte ich gerade ihre schiere Existenz beleidigt.
Ich verdrehte die Augen.
Jedes Mal
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