Gebannt - Unter Fremdem Himmel
Aria ging rechts von Perry. Ihre Stiefel verbargen die Blasen und Schnittwunden an ihren Füßen. Roar trottete zu Perrys Linken; er keuchte schwer, da er den Aufstieg zu Marron mit zusätzlichen fünfunddreißig Kilo auf den Schultern bewältigen musste. Perry drückte seinen Arm dicht an die Brust, doch es half nichts. Bei jedem Schritt spürte er seinen Puls in der Hand pochen. Sein Mund war wie ausgetrocknet, und bereits innerhalb der ersten Stunde nach dem Aufbruch leerte er jeden einzelnen ihrer Trinkschläuche, konnte den brennenden Durst aber nicht löschen.
Als die Wirkung des Lusters nachließ, musste er gegen Wogen des Schmerzes ankämpfen, die ihn schier zu überwältigen drohten. Doch er bemerkte noch etwas anderes: Die Kiefernduftschwaden hatten sich gelichtet. Er konnte wieder Gerüche wahrnehmen – mit vertrauter Klarheit, isoliert und scharf. Seine Nase hatte sich endlich angepasst.
Der Wind trug den Gestank der Kräher zu ihm. Perry zählte mehr als zwei Dutzend individueller Gerüche. Und aus unmittelbarer Nähe schlugen ihm die Stimmungen von Aria und Roar entgegen.
Bei beiden roch er nichts als nackte Angst.
Aria | Kapitel Einundzwanzig
Mit brennenden Augen starrte Aria in den Wald, immer auf der Suche nach Krähenmasken und schwarzen Umhängen. Sie bewegten sich zu langsam und blieben zu oft stehen. Wenn sie eine Rast einlegten, damit Roar wieder zu Atem kommen konnte, bemerkte Aria auch den erleichterten Ausdruck auf Perrys aschfahlem Gesicht. Trotz des Zustands ihrer Füße war sie jetzt inzwischen die Schnellste von ihnen.
Ihr Blick fiel auf Perrys bandagierte Hand. Der weiße, im schwindenden Tageslicht leuchtende Verbandsstoff war blutgetränkt. Eine solche Wunde hatte sie noch nie gesehen. Sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, welche Schmerzen er erdulden musste – sie konnte ohnehin nicht glauben, was eben passiert war.
Wer war Cinder? Wie konnte ein Mensch eine solche Kraft besitzen? Aria hatte von Tieren wie Zitterrochen und Aalen gehört, die Bioelektrizität nutzten – aber ein Junge ? Das erschien ihr eher wie eine Idee aus einer der Welten. Allerdings hatte sie bis vor Kurzem auch noch nie etwas von Witterern, Horchern und Sehern gehört. Konnte es sich bei Cinders Fähigkeit nicht einfach um eine weitere Mutation handeln? Die Nutzung des Äthers schien eine zu gewaltige genetische Veränderung zu sein – aber möglich war es.
Aria verlor sich im gleichmäßigen Rhythmus ihrer Schritte, bis Roar plötzlich stehen blieb und Cinder – nicht besonders sanft – auf den Boden warf.
»Ich kann ihn nicht mehr tragen.«
Die Nacht war hereingebrochen, doch ein voller Mond stand hell und leuchtend am Himmel. Der Äther war schwächer geworden und zu einem Strudel fahlen Lichts verblasst. Sie hatten eine breite Ebene erreicht, an deren Horizont sich ein Berg erhob, der ebenfalls dicht bewaldet war.
Cinder lag zusammengesackt und mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Er zitterte nicht mehr.
Neben ihm schwankte Perry. »Wir sind fast da«, erklärte er und deutete mit dem Kopf auf den bewaldeten Hang. »Dort oben ist es.«
Roar schüttelte den Kopf. »Meine Beine.«
Perry nickte. »Ich werde ihn tragen.«
Mühsam öffnete Cinder die Lider und blinzelte zwischen den Wimpern hindurch, auf der Suche nach Perry. »Nein!«, wimmerte er leise, rollte sich auf die Seite und kehrte ihnen den Rücken zu.
Einen Moment lang starrte Perry auf die kleine, gekrümmte Gestalt. Dann nahm er Cinders Handgelenk, wuchtete sich den Arm des Jungen über die gesunde Schulter, schlang seinen verletzten Arm um Cinders Hüfte und zerrte den Jungen hoch. Auf diese Weise machten sie ein paar Schritte vorwärts, wobei Perry sich nach vorn beugte, um sich Cinders Körpergröße anzupassen.
Als die beiden an Aria vorbeischlurften, warf Cinder ihr einen raschen Blick zu. Seine schwarzen Augen funkelten feucht. Tränen der Scham, erkannte Aria. Er hatte die Hand verbrannt, die ihm nun half.
Im nächsten Moment wirbelte Aria herum. »Was ist das?« Ein neues Geräusch drang durch die nächtliche Stille. Ein weit entferntes Summen.
»Schellen«, sagte Roar und starrte grimmig in Richtung Wald.
Sofort erinnerte Aria sich wieder an Harris’ Worte. »Um die Geister der Dunkelheit zu verscheuchen«, murmelte sie.
»Um mich wahnsinnig zu machen!« Roar holte etwas aus seiner Tasche: eine schwarze Mütze, die er sich über den Kopf zog. Dicke Klappen fielen herunter und bedeckten seine
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