Gebieter der Dunkelheit
nachzudenken?«
Naomi nickte. »Ich bin so durcheinander.« Es kam ihr so vor, als wäre sie durch die Frage nach einer Hochzeit plötzlich aufgewacht, um die Beziehung mit Cheng mit anderen Augen zu betrachten. Wie war das möglich? Hatte sie sich verändert? Oder Cheng? »Er hat kaum noch Lust. Manchmal tut er sogar so, als wäre Sex etwas Abartiges.« Oder sie eine Nymphomanin.
Beherzt griff Jillian ihre Hand. »Lass dir das nicht einreden. Sex ist niemals abartig! Leidenschaft ist Teil unseres Menschseins. Sie ist natürlich, und genauso sollten wir mit ihr umgehen.«
»Danke, Jill, für deine Offenheit.«
»Ich bin immer für dich da. Aber jetzt muss ich meine Männer füttern.« Schwungvoll erhob sich Jillian, nahm das Holzbrett mit den Broten und steckte sich das Käsebrot in den Mund. Mit dem Brett in der einen Hand und einer Thermoskanne in der anderen verließ sie die Küche.
Nun aß Naomi doch ihr Rührei und den Bacon. Sie dachte an den letzten Sex mit Cheng. Eigentlich war es nur Petting gewesen. Reine Pflichterfüllung, wie sich herausgestellt hatte. Unweigerlich verglich Naomi ihn mit der Ménage à trois und schnaubte. Dazwischen lagen Welten! In dem Gewölbe hatte die Luft geflirrt. Selbst Naomi, obwohl unbeteiligt, hatte das Prickeln gespürt. Die schwül-erotische Atmosphäre war dick wie Sirup gewesen und genauso köstlich.
Samuel stahl sich in ihre Gedanken. Ihn umgab dieselbe verführerische Aura. Sexappeal lag in seinem Blick, seinen Gesten und seiner samtigen Stimme. Die personifizierte Verführung. Sein einziges Manko schien zu sein, dass er sich seiner Ausstrahlung bewusst war. Doch jetzt, da sie an das Dinner zurückdachte, fiel ihr auf, dass er weder versucht hatte Jillian, noch Tante Carol zu umgarnen. Seine ganze Aufmerksamkeit hatte ihr gegolten.
Naomi wurde heiß. Durch das mediterrane Klima im Napa Valley gehörten die Weine zu den Weltbesten, doch an manchen Tagen konnte die Hitze den Menschen zusetzen.
»Ja, ja, such nur immer nach einer Ausrede«, rügte sie sich selbst und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Chengs Lustlosigkeit hatte sie lange darauf geschoben, dass er einfach nur überarbeitet war. Aber er wollte ja nicht einmal nach einer Party in einer lauen Sommernacht mit ihr schlafen.
Sam hätte ihr Angebot bestimmt nicht abgelehnt. Schmunzelnd löschte sie die Brennpaste unter den Chafing-Dishes. Was wusste sie schon von ihm? Nur dass er eine härtere Spielart bevorzugte und als Schriftsteller arbeitete. Welche Bücher er wohl schrieb?
»Das dürfte nicht schwer herauszufinden sein«, murmelte sie voller Vorfreude.
Sie presste noch rasch einige Orangen aus und eilte, angetrieben von einer unbändigen Neugier, mit dem Saft zurück auf ihr Zimmer im ersten Obergeschoss. Durstig leerte sie das Glas zur Hälfte und setzte sich an den kleinen Tisch, der neben dem Fenster stand. Ihr Laptop passte gerade darauf. Sie fuhr ihn hoch, loggte sich ins Internet ein und tippte aufgeregt die Begriffe »Samuel McAvoy« und »Schriftsteller« in die Maske einer Suchmaschine ein. Das Ergebnis waren traurige sechs Einträge. Alle führten zu irischen Männern mit demselben Namen, die lange verstorben waren. Erst als Naomi »Schriftsteller« durch »Autor« ersetzte, stieß sie auf einige Artikel, die von Sam stammten, denn ein Foto seines jüngeren Konterfeis prangte jeweils darunter. Allerdings handelte es sich um journalistische Berichte in Boulevardzeitungen.
Ernüchterung machte sich in Naomi breit. In ihrer Naivität war sie davon ausgegangen, dass Sam Romane schrieb. Aus Chads Mund hatte es so geklungen. Sie nippte an ihrem Orangensaft und rief sich ins Gedächtnis, was ihr Cousin gesagt hatte. »Samuel McAvoy, ein Autor. Er ist ein echt feiner Kerl.«
Den Begriff Schriftsteller hatte er nicht erwähnt, musste sie zugeben, und ein Autor ist lediglich jemand, der schreibt, nicht mehr und nicht weniger, Bühnenstücke zum Beispiel, TV-Soaps, Lehrbücher, Poesiebände oder Montageanleitungen. Sam schien für die Yellow Press zu arbeiten.
Enttäuscht lehnte sich Naomi zurück und drehte ihr Glas mal zur einen, mal zur anderen Seite. Journalisten waren ihr suspekt. Gerade in Kalifornien, wo die Promidichte hoch war, verkauften sie die Seelen anderer, um Geld zu scheffeln.
Samuel war nicht nur ein Frauenheld, sondern er ging auch über Leichen, um einen Vorteil für sich daraus zu schlagen. Allerdings erweckte er nicht den Eindruck, ein schmieriger Reporter zu
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