Gebieter der Dunkelheit
seit sie Zeugin geworden war, wie Rachel Chad dominiert hatte.
Sie schüttelte den Kopf, um diese Stutenbissigkeit, die eigentlich gar nicht ihr Fall war, loszuwerden, und schloss das Fenster. Eifersucht nagte an ihr, da sie nicht sicher sein konnte, dass Sam nicht doch mit Rachel schlief. Sie glaubte es eigentlich nicht, aber allein die Möglichkeit machte sie misstrauisch.
Ihr Magen knurrte. Naomi hatte das Frühstück ausfallen lassen wollen – schließlich würde sie bald wieder nackt vor Sam stehen –, aber jetzt machte sich der Hunger doch bemerkbar. Möglicherweise würde ein Glas Möhrensaft das Loch in ihrem Magen halbwegs stopfen, um bis zum Lunch durchzuhalten. Vielleicht ein klitzekleines Knäckebrot? Ein Toast mit Käse? Je mehr sie über Essen nachdachte, je größer wurde ihr Hunger.
Sie verließ ihr Zimmer, um den Kühlschrank in der Küche zu inspizieren. Die Wände im Gang waren tapeziert mit Erinnerungsfotos und Urkunden der Maroon Winery. Manche Fotos waren sogar noch in schwarz/weiß und wirkten viel atmosphärischer als die farbigen, aber auch wie aus einer anderen Welt. Auf dem Bild, das ihren Onkel als Student bei den Abschlussfeierlichkeiten auf der California State University zeigte, sah er fast genauso aus wie heute. Faszinierend, dachte Naomi, blieb stehen und betrachtete es genauer. Bis auf den Bauchansatz hatte er sich kaum verändert. An der Uni in Fresno hatte er als junger Mann Weinbau studiert, um in die Fußstapfen seiner Vorväter zu treten.
Plötzlich stutzte Naomi. Kam Rachel nicht aus der Universitätsstadt?
Als sie darüber nachdachte, fielen ihr Chads Worte ein: »Sie ist eine Backpackerin aus Fresno, geboren und aufgewachsen im Central Valley, dem kalifornischen Mekka des Massenweinbaus. Vor einem Monat klopfte sie auf der Suche nach Arbeit an unsere Tür.«
In diesem Moment – mit der Erinnerung an Rachel, die in Bills Wagen stieg, um vom Chef persönlich zu ihrem Einsatzort gefahren zu werden –, kam es ihr komisch vor, dass Rachel erst vier Wochen auf dem Gut weilte, aber schon Chad erobert hatte und selbst von Onkel William Sonderbehandlungen bekam. Ihr Cousin war leicht zu beeindrucken. Rachel ließ ihn schließlich nicht nur ran, sondern spielte auch höchst ungewöhnliche Sexspiele mit ihm. Bill dagegen war ein härterer Brocken. Hatte sie diese Nuss etwa auch geknackt?
Ein anderes Gespräch kam Naomi in den Sinn. Es drängte sich ihr förmlich auf. Es ging um ein Kind. Bills Kind, das nicht von Tante Carol war. Konnte Rachel damit gemeint sein? Hatte Bill damals in Fresno eine Affäre mit Rachels Mutter gehabt? War Rachel auf das Weingut gekommen, um in der Nähe ihres Vaters zu sein?
Naomis Magen krampfte sich zusammen. Der Hunger war wie weggeblasen. Kopfschmerzen breiteten sich von den Schläfen aus, Naomi massierte sie sanft. Wenn ihre Vermutungen stimmten, sahen Jillian, Carol und William stillschweigend dabei zu, wie Rachel Chad ins Unglück stürzte. Warum? Nur damit das Familiengeheimnis nicht an die Öffentlichkeit drang?
»Oh, mein Gott«, flüsterte Naomi. Wollte Rachel Carol und Bill quälen, weil sie nie zur Familie gehört hatte? War sie auf Rache aus?
»Das sind alles nur Mutmaßungen«, sagte sie zu sich selbst und spürte, wie ihr Killerinstinkt, den sie für ihren Job benötigte, erwachte. »Du brauchst Beweise.«
Ihr Blick fiel auf die Tür zu Chads Zimmer. Sie wusste, dass Rachel längst bei ihm eingezogen war, und Chad den Schlüssel verbummelt hatte, wie so vieles. Wenn man ihm eins nicht vorwerfen konnte, dann war es materiell orientiert zu sein. Naomi rang mit sich. Sie durfte den Raum nicht einfach betreten und die persönlichen Sachen von Rachel durchsuchen. Doch ihre Hemmschwelle war niedriger als bei anderen Menschen, da sie ihre Brötchen bei Pinpoint Precision damit verdiente, in fremde Wohnungen zu gehen und sich durch Unterwäsche und Unterlagen zu wühlen. Sie hatte schon einen Erben ausfindig gemacht, der in einem kolumbianischen Dorf lebte, das auf keiner Karte verzeichnet war, weil es nur aus drei Häusern bestand.
Ihre Füße bewegten sich wie von selbst in die Richtung. Verstohlen blickte sie zur Treppe und lauschte dann, aber im Haus war es still. Zur Vorsicht klopfte sie, für den Fall, dass Chad faul im Bett lag. Er nahm sich öfters mal eine Krankheit. Da niemand antwortete, trat sie rasch ein und schloss die Tür hinter sich.
Naomi kämpfte mit ihrem Schuldbewusstsein. Es war nicht richtig, was sie hier tat
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