Gebieter der Dunkelheit
– aber auch nicht wirklich falsch. Sie wollte niemandem schaden, sondern die Wahrheit herausfinden, vor allen Dingen, um ihren Cousin zu warnen, den alle ins offene Messer laufen ließen. Himmel, sie wünschte sich so sehr, dass ihre wilde Theorie nicht stimmte! Rachel war ihr im Moment egal, aber sie wusste nicht, ob sie Carol und Bill verzeihen könnte, dass sie Chad nicht warnten.
Naomi fand Rachels Portemonnaie samt Führerschein sofort. Es steckte in einem olivenfarbenen Leinenrucksack, den ein Hanf-Symbol zierte, nebst einer Sammlung von Kaugummis in allen Geschmacksrichtungen, die es zu kaufen gab, darunter auch ein Streifen mit Nikotinkaugummis. Ihre Hände zitterten, als sie den Ausweis aufklappte. Rachels Nachname lautete Masterson. Naomi merkte ihn sich für weitere Nachforschungen. Ihr Geburtsdatum zog Naomis Aufmerksamkeit auf sich. Rachel war fünf Jahre älter als Chad. Standen die meisten Frauen nicht auf ältere Männer? Welche Vierundzwanzigjährige fühlte sich schon zu einem Neunzehnjährigen hingezogen? Doch nur, wenn sie sich Vorteile davon versprach. Oder unlautere Absichten hegte.
Doch dann sah sie etwas, das ihre Kopfschmerzen anschwellen ließ. Das Pochen dröhnte in ihrem Kopf. Sie konnte kaum noch klar denken. Laut ihres Führerscheins wurde Rachel in Salinas, südlich von San Jose, geboren.
»Sie stammt gar nicht aus Fresno«, stellte Naomi verdutzt fest.
Wieso hatte Rachel gelogen? Diese Information warf Naomis Theorie über den Haufen, doch sie war keineswegs beruhigend. Etwas stimmte nicht mit Rachel Masterson.
Stimmen waren auf dem Korridor zu hören. Naomi horchte nervös. Nein, es war nur eine. Lizzy redete zornig auf den Staubsauger ein, der ihr beim Hinterherziehen in die Hacken gefahren war. Ein Schlüsselbund rasselte. Dann wurde ihr Gezeter leiser. Das Hausmädchen musste in einem der Nachbarzimmer verschwunden sein. Naomi zuckte zusammen, als Lizzy die Zimmertür zuknallte. Die Geldbörse fiel ihr aus der Hand. Naomi musste sich beeilen. Rasch hob sie die Brieftasche vom Boden auf und bemerkte, dass etwas herausgefallen war. Sie steckte den Führerschein hinein und bückte sich nach dem Foto. Ein Ultraschallbild! Überrascht stutzte Naomi. So sehr sie sich auch bemühte, sie erkannte darauf nicht viel. Aufschlussreicher dagegen waren die Angaben, die der Arzt zur Kennzeichnung des Bildes angegeben hatte: Rachel Masterson/3. Schwangerschaftsmonat. Das Datum der Aufnahme lag gerade mal vier Tage zurück, und der Arzt hatte seine Praxis in St. Helena.
»Rachel ist schwanger«, wisperte Naomi fassungslos, »und man sieht ihr bisher nicht einmal etwas an.«
Hatte Carol von dem ungeborenen Kind gesprochen? Von Chad konnte das Baby nicht sein, denn Rachel war erst vor einem Monat auf das Weingut gekommen. Konnte Bill der Vater sein? War Rachel gar nicht seine Tochter, sondern seine heimliche Geliebte, die ein Kind von ihm unter dem Herzen trug?
Naomi war plötzlich völlig am Ende. Sie fühlte sich ausgelaugt und schlapp, und dennoch wütete in ihrem Kopf ein Wirbelsturm der Kategorie F5.
Egal, wie die Wahrheit aussah, Sam durfte davon auf keinen Fall erfahren. Sie würde ihn ablenken müssen. Mit vollem Körpereinsatz. Und es vielleicht sogar genießen.
Auf leisen Sohlen schlich Naomi in ihr Zimmer zurück. Als sie ins Bad ging, um ein Aspirin zu nehmen, erschrak sie. Jemand hatte ihren pfirsichfarbenen Lippenstift dazu benutzt, um etwas auf den Spiegel zu schreiben. Die kunstvoll geschwungenen Buchstaben kamen ihr nur allzu bekannt vor.
01:00 a.m. Bei mir. Betrifft:
Jayjay
Samuel! Er war in ihrem Schlafzimmer gewesen, als sie Rachels Sachen durchwühlt hatte. Hatte er ihre Schränke durchsucht? Das Foto von Cheng in ihrer Geldbörse entdeckt? Sie beobachtet, als sie sich in Chads Raum stahl? Das erste Mal erfuhr sie am eigenen Leib, wie es war, wenn jemand in der Privatsphäre herumschnüffelte, und es gefiel ihr ganz und gar nicht.
Aber was bedeutete »Jayjay«? Absichtlich hatte Sam nicht unterschrieben oder den Treffpunkt genau benannt, da er damit rechnen musste, dass Lizzy seine Nachricht vor Naomi fand. Es musste sich um eine Art Code handeln.
»Jayjay«, murmelte Naomi vor sich hin, »Jay Jay … das könnte für einen Kosenamen stehen … oder den Buchstaben J… Jill und Jeff.« Natürlich! Es ging um die Löschung des Kapitels über die gemeinsame Leidenschaft von Jillian und Jefferson: die Ménage à trois.
Bedeutete das, eine dritte Person würde
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