Gebieter des Sturms (German Edition)
verblassenden Licht über den Fluss, und die feurigen Laubfarben an beiden Ufern waren gedämpft. Zuerst suchte sie am Ufer nach Carling. Erst als ihr Blick auf hellen Stoff fiel, der neben ihr über einem Strauch hing, kam sie auf die Idee, die Wasseroberfläche nach ihr abzusuchen. Sie entdeckte Carlings glatten, dunklen Schopf, der durch die Wellen pflügte.
»Oh mein Gott«, sagte sie schaudernd. Das Wasser musste so kalt sein, dass es einen bis auf die Knochen betäubte. Jeder, der hineinfiel, würde binnen Minuten eine Unterkühlung riskieren, wenn er, nun ja, am Leben war. »Spüren Sie die Kälte nicht?«
Mit amüsiertem Blick parkte sich Rune an einer Birke, die Arme vor der Brust verschränkt. Carlings heiseres Kichern drang über das Wasser zu ihr herüber. Die Vampyrin schwamm gegen die Strömung. Ihre gemächlich aussehenden Schwimmstöße wirkten vollkommen mühelos.
»Ich spüre sie«, sagte Carling. Sie tauchte den Kopf unter Wasser und kam wieder an die Oberfläche. »Es hat auf mich nur nicht die gleiche Wirkung wie auf Sie.«
»So wie beim Sonnenlicht?«
»Das ist etwas anderes«, sagte die Vampyrin.
»Inwiefern?« Schon seit sie im Hotel gesehen hatte, wie Carling ins Sonnenlicht getreten war, hatte Niniane für ihr Leben gern wissen wollen, was es damit auf sich hatte.
»Ich hülle mich in magische Energie, damit ich mich im Sonnenlicht aufhalten kann. Sonst müsste ich mich mit Kleidung und Sonnencreme verhüllen, wie es die anderen Vampyre tun, andernfalls würde mich die Sonne ebenso zu Asche verbrennen wie sie. Ich kann mich in der Sonne aufhalten und sie ansehen, aber ich würde es nicht mehr überleben, sie auf meiner Haut zu spüren.«
»Das muss sehr anstrengend sein.«
»Ich wollte nicht wochenlang am Stück bei Tageslicht unterwegs sein. Aber für diese kurze Reise ist es in Ordnung.«
Carling schwamm ans Ufer und stieg aus dem Wasser. Niniane blieb die Luft weg. Der geschmeidige, nasse nackte Körper der Vampyrin glitzerte in den silbrigen Resten des verblassenden Lichts. Ihre vollen Brüste, die schmale Taille und die starken, geschwungenen Beine waren perfekt geformt und von geschmeidiger Anmut, doch damit endete jeder Anschein von Perfektion, denn von den Schultern bis zu den Oberschenkeln war sie mit Streifen überzogen wie ein Tiger. Ihr Körper war von Dutzenden langer weißer Narben bedeckt, die von Peitschenhieben herrühren mussten. Jemand musste sie schlimm verprügelt haben, als sie noch ein Mensch gewesen war. So schlimm, dass sie dem Tode nahe gewesen sein musste.
Niniane biss die Zähne fest zusammen und bekam feuchte Augen. Carling trat ans Ufer und warf ihr einen kurzen, unbeteiligten Blick zu. Dann richtete sich die Aufmerksamkeit der Vampyrin auf Rune, und für einen Augenblick, der einen Herzschlag hätte dauern können, hielt sie inne.
Auch Niniane wandte sich zu Rune um.
Er starrte Carling an. Seine schroffen Züge wirkten wie gemeißelt, die Knochen traten hervor. Die Konturen seines Körpers vibrierten vor Spannung, und seine Muskeln waren wie versteinert. Die goldenen Löwenaugen loderten.
Carling wandte sich von dem Wächter ab. Sie nahm ihren sauberen Kaftan vom Gebüsch und streifte ihn mit lässigen, gemächlichen Bewegungen über. Ihre Miene blieb gelangweilt, ihr Gesicht und ihr Körper strahlten einen Glanz aus. »Vielleicht sollten wir uns in meinem Zelt unterhalten«, sagte Carling.
Niniane folgte Carling zur Lagerstätte. Die Vampyrin betrat ihr Zelt, ein großes, modernes Nylonding, dessen Reißverschlussfenster zugezogen waren. Am Eingang hielt Niniane inne und sagte zu Rune: »Warte bitte hier! Ich weiß, Tiago möchte, dass immer einer von euch bei mir ist. Aber ich bin ja nur auf der anderen Seite dieser Zeltplane.«
Rune nickte wortlos.
Sie zögerte. Sie wusste nicht, was sie ihn fragen wollte, vielleicht nur, ob es ihm gutging, doch seine Miene war hart und verschlossen, und seine Körpersprache hielt sie zurück. Sie seufzte. Manchmal waren Wyr unergründlich.
Sie betrat das Zelt. Von innen war es mit Wandbehängen aus Damastseide und der intarsierten Mahagonitruhe aus dem Hotel dekoriert. Es gab keine Stühle, nur eine Ansammlung von Kissen auf einem Teppich. Carling goss Rotwein in zwei Gläser. Ihr dunkles, nasses Haar lag glatt am Kopf an. Sie wandte sich um und bot eines der Gläser Niniane an, die es gern annahm. Dann setzte sich Carling im Schneidersitz auf eines der am Boden liegenden Kissen. Niniane versuchte ihre
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