Gebissen
diesem Moment fühlte er sich um so vieles stärker, sie ein kleines Mädchen, und er, er ...
Er küsste sie nicht.
Wenn er sie jetzt küsste, würde er sich nicht mehr bremsen können. Es wäre kein sanfter Abschiedskuss, er würde sie gegen die Tür drücken, sie mit der Zunge küssen, natürlich, sie war trotz allem schön, aber dann würde er ihr in die Lippen beißen wollen, in den Hals. Wie schon gestern bei Danielle dachte er, dass Küssen zu wenig sei. Aber was hieß schon zu wenig?
Sie war klein und zerbrechlich, und er wollte sie zur Strecke bringen. Als ginge es hier nicht um Sex, sondern um Jagd. Er dachte daran, ihr in den Hals zu beißen, bis ihr Blut über die schmale Schulter floss und zwischen den Brüsten hinab. Sie hatte die Haare hochgesteckt, der Hals war so nackt und frei, hieß das denn nicht, dass sie es auch wollte? Weshalb sollte sie ihm ihren Hals sonst so darbieten? Er war sicher, ihre Erregung riechen zu können - sie wollte ihn, obwohl Sandy oben wartete.
Nein! Reglos blieb er stehen und küsste sie nicht.
Noch immer sah sie ihn wartend an, doch ihre Finger hielten seine Hand nicht mehr ganz so fest, und ihre Augen flackerten unsicher.
Alex atmete schwer. Erregung riechen? Was für ein Schwachsinn. Und wie kam er auf den Gedanken, sie zu beißen, bis sie blutete? Ihm war, als könne er den Geschmack von Blut auf der Zunge spüren, seine Lippen zogen sich zusammen, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und doch war der Geschmack so herrlich süß. Seine Zunge tastete danach, er wollte mehr davon, und zugleich wollte er ihn ausspucken, doch natürlich tat er das nicht vor ihren Augen, er schluckte den Geschmack einfach hinunter. Angewidert und gierig zugleich.
Nein, er wollte nicht die Kontrolle verlieren. Nicht dass er Angst davor hatte, mit ihr im Bett zu landen, ganz im Gegenteil, und wenn Sandy die ganze Nacht in ihr Kissen weinen würde, während sie ihnen durch die dünnen Zimmerwände hindurch zuhören musste und abwechselnd alle Männer und ihre treulose Freundin Lisa beschimpfen würde, die lieber mit einem Typen ins Bett stieg, als für sie da zu sein, wenn sie Trost und Beistand brauchte - es wäre ihm egal. Vollkommen egal, er kannte Sandy nicht.
Doch er wusste nicht, wo es enden würde, und er wollte Lisa nicht beißen, ihr nicht den Hals aufreißen, ganz egal, was er eben gedacht und einen dunklen Augenblick lang gewünscht hatte.
Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Er konnte sich selbst nicht trauen, er musste hier weg, sofort!
»Dann also bis dann«, murmelte er und versuchte ein Lächeln, um nicht ganz so abweisend zu klingen. »Ich hoffe, das mit Sandy und ihrem Ex kommt wieder in Ordnung. Oder sie kommt damit klar.«
»Danke.« Sie ließ seine Hand los und kramte fahrig den Schlüssel aus der Tasche.
Er trat zwei Schritte zurück, brachte Abstand zwischen sich und ihren herrlichen, bloßen Hals, und wartete, bis Lisa im Haus verschwunden war. Bevor sie die Tür ins Schloss fallen ließ, drehte sie sich noch einmal um. Alex winkte unbeholfen. Seine Beine wollten ihr hinterherspringen, doch er blieb stehen, zwang sich mit aller Gewalt dazu. Sie lächelte schüchtern und verunsichert.
Dann drehte er sich um und schlenderte zurück zur U-Bahn. Als ihm eine Frau mit klackenden Absätzen entgegenkam, wechselte er die Straßenseite und starrte stur zu Boden, die Hände in den Hosentaschen. Anders konnte er nicht sicher sein, dass er sie nicht anfiel.
Grübelnd lief er an dem großen blauen U der Haltestelle und der Treppe vorbei. In den Bahnen waren zu viele Menschen, wie konnte er wissen, dass er nicht einfach einen von ihnen biss? Den Drang, sich umzubringen, hatte er seit Jahren im Griff, aber das war neu. Er traute sich einfach selbst nicht - es war wohl besser, wenn er zu Fuß nach Hause ging. Länger als eine oder anderthalb Stunden würde das nicht dauern, die grobe Richtung kannte er, und er hatte heute Nacht nichts mehr vor und genug Stoff, über den er nachdenken konnte.
Jedoch brachte er keine Ordnung in seine Gedanken, alles ging durcheinander. Er wollte mit jemandem reden, tastete nach seinem Handy und ließ es dann doch in der Tasche stecken. Was sollte er Koma denn sagen?
Ich habe Lisa nicht geküsst, weil ich Angst hatte, ihr den Hals aufzureißen?
Koma wusste von Alex’ Selbstmordgedanken, er hörte sich jeden Schwachsinn an, ohne zu verurteilen, auch betrunkenes Gejammer. Aber das? Das war schon ziemlich daneben.
Zu Alex’ Linken
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