Gebissen
kein Schrei dringt in die düstere Halle. Ihre Köpfe ragen über die Wannenränder hinaus, fallen in den Nacken, die Hälse appetitlich präsentiert wie auf einem Teller.
Langsam schreitet er die sorgsam angeordneten Reihen ab und verharrt bei jedem dargebotenen Hals. Er pocht gegen die Schlagader, als könne er so den Blutfluss anregen, dann beißt er prüfend hinein, nimmt einen kräftigen Schluck Blut und spült ihn im Mund hin und her wie bei einer Weinprobe. Eine Krankenschwester in dunkelroter Tracht folgt ihm und verschließt die Hälse sofort wieder mit geschickter Hand. Die angetrunkenen Menschen röcheln stumm und starren dann weiter angstvoll an das ferne Hallendach.
Jeden Hals teilt er gewissenhaft in eine von drei unterschiedlichen Geschmacksrichtungen ein, von lieblich bis trocken, obwohl sich jeder Schluck säuerlich auf seine Lippen legt, und ritzt entsprechend eine I, II oder III in die Brust der Nackten. Über die Wannen hinweg sieht er andere Gestalten in dunkelroten Laborkitteln, die ebenso wie er ihre Reihen ablaufen und das Blut kategorisieren.
Dann ist er unvermittelt draußen, auf den leeren Straßen einer nächtlichen Siedlung unter einem mondlosen Himmel, und zieht einen großen dunklen Leiterwagen hinter sich her. Der Wagen ist furchtbar schwer, und er schwitzt und keucht, während er mit dem Gewicht kämpft. Mühsam quält er sich Schritt für Schritt voran.
Die kleinen pastellfarbenen Häuser sind alle gleich, charakterlose Wohnkartons mit blank gewienerten Plastiktüren. In ihren Vorgärten stehen die gleichen Gartenzwerge und bewachen mit Spaten, Spitzhacke und debilem Grinsen die immer gleichen dornenlosen Blumen.
Mit der linken Hand läutet er eine schwere schwarze Glocke, stellt vor jedes Haus einen Träger mit sechs roten Plastikflaschen und ruft: »Der Blutmann, der Blutmann ist da!«
Hinter den zugezogenen Vorhängen bewegt sich etwas, doch niemand kommt heraus, während er seine nächtliche Runde dreht.
»Der Blutmann, der Blutmann ist da!«
Weiter, immer weiter geht er, bis plötzlich ein großer weißer Kastenwagen mit zwei rotierenden gelb blinkenden Lichtern auf dem Dach und vergitterten Fenstern die Straße entlangbrettert und neben ihm zum Stehen kommt.
»Lauf!«, schreit ihm jemand zu, auch wenn er niemanden entdecken kann. Zahllose Gestalten in weißen Kitteln springen aus dem Wagen und jagen ihn die Straße entlang. Er lässt den Leiterwagen los und flieht, so schnell seine Beine ihn tragen. Der Leiterwagen stürzt um, die Flaschen fallen heraus und zerbrechen, als wären sie aus dünnem Glas. Das warme dunkle Blut fließt über die Straße, schwemmt die scharfkantigen Scherben mit sich und versickert im Rinnstein oder im Gulli. Er rennt und rennt, hält sich die stechende Seite, dreht sich nicht um, schreit nicht, tut nichts als rennen, bis seine Lunge vor Schmerz zu bersten droht, bis er plötzlich einen leichten Stich im Rücken spürt und mitten im Lauf zusammenbricht. Auf Knien und Händen schlittert er über den harten Asphalt, sackt mit Gesicht und Bauch zu Boden, und alles wird schwarz.
Er erwacht auf einem Zahnarztstuhl, mit Handschellen daran gefesselt. Vor ihm steht Danielle in einem Arztkittel. Sie hat eine rostige Kneifzange in der Hand und lächelt ihn an. »Mund auf.«
Er gehorcht.
»Hab es mir doch gedacht. Da nascht wer zu viel liebliches Blut. Hast du noch nie von Karies gehört? Du bist doch eigentlich alt genug. Aber es hilft nichts, die müssen raus.«
»Raus?«
»Ja. Raus, alle raus.« Lächelnd steckt sie ihm die rostige Zange in den Mund und reißt ihm einen Zahn nach dem anderen aus. Ohne Spritze.
Er brüllt, stechender Schmerz frisst sich durch seinen Schädel, durch seinen ganzen Körper, hinab bis in die letzte Zehe. Tränen laufen ihm aus den Augenwinkeln, aber er kann sich nicht bewegen, kann nicht um sich schlagen, sie nicht von sich stoßen, die Zange aus seinem Mund reißen und fortschleudern. Er kann nichts tun, als alles zu erdulden. Langsam füllt sich sein Mund mit Blut, und die schmerzerfüllten Schreie werden zu einem hilflosen Gurgeln. Immer höher steigt das Blut in seinem Mund, gluckernd schwappt es hin und her. Doch auf keinen Fall will er schlucken.
»Ganz ruhig, du hast es ja bald geschafft. Bist ein tapferer Junge«, strahlt sie und wirft einen weiteren Zahn in eine riesige Tonne in der Zimmerecke, die er erst jetzt bemerkt. Sie quillt über vor Zähnen, und auch seiner hält sich nicht oben auf dem
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