Gebissen
Berg, sondern rollt wieder herab auf die weißen, blutverschmierten Fliesen. »Du musst nicht weinen, es sind doch alles nur Milchzähne.«
Alex erwachte schweißgebadet, japsend und mit einer Erektion. Mit der Zunge fuhr er sich über die Zähne, sie waren alle noch da. Was für ein schwachsinniger Traum! Er hatte in zwei Wochen einen Termin beim Zahnarzt, aber Angst davor hatte er nicht.
Wollte der Traum ihm sagen, dass Danielle ihm alle Zähne gezogen hatte?
Unsinn, Träume wollten einem gar nichts sagen. Sein Unterbewusstsein hatte sich einfach weiter mit dem beschäftigt, was ihn gestern umgetrieben hatte; die Lust zu beißen, das Verlangen nach Danielle. Warum hatte er nicht von Lisa geträumt?
Alex quälte sich aus dem verschwitzten Bett, es ging bereits auf zwei zu, und schleppte sich ins Bad. Langsam klang die Erektion ab, sein Kopf war schwer, schwerer, als er nach drei Bier sein durfte. Vielleicht war es ein altes Fass gewesen, oder ihm hatte tatsächlich jemand was ins Glas getan. Er hatte einen widerlichen Geschmack nach Erde und Blut im Mund und spuckte ins Waschbecken.
Der Blutmann - was für ein Unfug!
Er dachte an Lisa, daran, wie sie erwartungsvoll vor ihm an der Wand gestanden hatte. Seine Erektion war wieder da, aber nicht die Gier, ihr Blut zu trinken. Mit Nachdruck stellte er sich ihren schlanken Hals vor, wie sie ihn ihm anbot, aufreizend, unterwürfig, mit den seltsamsten Verrenkungen, lächelnd und furchtsam, doch er dachte nicht einen Moment daran zuzubeißen. Beruhigt lachte er auf, atmete durch und nahm sich vor, sie nachher anzurufen. Immerhin hatte er sie ziemlich dämlich stehen gelassen.
Zum Kaffee las er in der Wochenendausgabe der Berliner Allgemeinen. Gestern, nach Danielles kurzem Brief, hatte er es ganz vergessen. Tatsächlich fand sich im Berlinteil der Artikel zu den Satanisten aus der Gothic-Szene. Vom Jugendlichen, der dem Teufel auf dem Friedhof Tieropfer dargebracht hatte, bis zum psychisch gestörten Ritualmörder reichten die angeführten Beispiele, und scheinbar jeder von ihnen hatte eine Marilyn-Manson-CD im Regal stehen. Auch andere Bands wurden erwähnt, dabei wurden satanistische Black-Metal-Combos ohne Sinn und Wissen einfach der schwarzen Szene zugerechnet, schwarz war schließlich schwarz. Über das PC-Spiel Gothic, das außer der Namensgleichheit nicht viel mit der Szene zu tun hatte, wurde in zwei Nebensätzen eine Verbindung zu gefährlichen Killerspielen hergestellt, in denen nicht nur gemordet, sondern auch gefoltert und geopfert wurde.
»Bei derart offensichtlichen Zusammenhängen muss doch die Staatsanwaltschaft eingreifen«, wurde ein Pfarrer aus einer kleinen Berliner Gemeinde zitiert. Auch wenn der Artikel mit einer vagen Formulierung endete, die davor warnte, allzu überhastet irgendwelche Schlüsse zu ziehen, starrte Alex fassungslos auf die Zeitung.
Kurz ärgerte er sich, dass er den Auftrag nicht doch angenommen hatte, einfach, um diesen gedruckten Unsinn zu verhindern. Aber dann beschimpfte er Salle in Gedanken wüst. Den Schreiberling kannte er nicht, vielleicht war der wirklich so verblödet, aber Salle wusste es besser. Der hatte dies wider besseres Wissen abgedruckt, und das kotzte ihn wirklich an. Alex konnte sich nicht erinnern, dass Salle oder seine Zeitung so etwas vor drei, vier Jahren schon gemacht hätten.
Die beiden Gothicmädels auf den dazugehörigen Fotos trugen ihre Reize so offensiv zur Schau, die Bilder könnten glatt in einem Männermagazin abgedruckt werden. Was machten sie also hier, im Berlinteil einer Tageszeitung, wenn weder die selige Loveparade noch der Christopher Street Day stattfand?
Na ja, eigentlich fragte er sich das nicht. Sex sells, wie es so schön hieß. Doch das war nicht das Problem. Sollte doch jede Zeitung so viele halbnackte Frauen und Männer abdrucken, wie sie wollte, nur bitte zu differenzierten und gut recherchierten Texten und nicht zu so etwas.
Was sich aber wirklich verkaufte, war nicht nur Sex, sondern ebenso die scheinheilige Empörung über ihn, Promiklatsch mit scheinbar schrecklichen Fettpölsterchen im knappen Bikini, öffentliche Schuldzuweisungen und Häme, Tod, Drama, Chaos, irgendein Schicksal - meist eine tödliche Krankheit - und immer wieder Angst. Angst vor Tod, Unfällen, Arbeitslosigkeit, Unwettern und diesen oder jenen Personengruppen – hier eben Gothics.
Alex las den Artikel noch mal, doch er wurde dadurch nicht besser. Nicht einmal der Kaffee schmeckte noch,
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