Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gebissen

Gebissen

Titel: Gebissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
Vom Netzwerk:
Alex löffelte Zucker nach, aber auch das half nichts, er wurde den bitteren Geschmack im Mund nicht los.
    Weiter unten auf der Seite fand sich ein kleiner Artikel, der besagte, dass die Zahl der Vermissten in Berlin letzten Monat im Vergleich zum April letzten Jahres deutlich gestiegen war, um 20% auf 452. Die meisten waren jugendliche Ausreißer, erfahrungsgemäß kehrten zwischen 80 und 90% innerhalb von 14 Tagen zurück, man könne davon ausgehen, dass letztlich sogar 98 % der Vermissten wohlbehalten wieder auftauchten. Das hieß aber auch, dass statistisch etwa neun Personen im April in Berlin spurlos verschwunden waren, erfolgreich auf der Flucht in eine neue Identität oder Opfer eines Verbrechens, eingesperrt in irgendwelchen Kellern, verkauft oder ermordet und irgendwo verscharrt, im Meer versenkt oder anderweitig entsorgt. Das wären jedes Jahr über hundert in Berlin, zumindest statistisch.
    Alex goss sich Kaffee nach, trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum und starrte auf die zugezogene Jalousie an seinem Fenster. Draußen schien die Sonne grell, das konnte er an den leuchtend weißen Streifen Helligkeit erkennen, die zwischen den Lamellen hereindrang. Genug Licht, um zu lesen, mehr brauchte er nicht. Solange seine Augen noch von Schlaf verklebt waren, würde er die Jalousie nicht hochziehen.
    Ein Fünftel mehr Vermisste im letzten Monat war viel. Aber es war nur eine Statistik, Statistiken gaben das Leben nur unzureichend wieder. Vielleicht war das Wetter diesen April sonniger, und da liefen Jugendliche lieber weg als bei Regen. Nur was, wenn die Steigerung bei den Vermissten andere Gründe hatte, wenn diese 20% nicht zurückkehrten? Sonne hin oder her, es war doch unwahrscheinlich, dass plötzlich ein Fünftel mehr Teenager beschlossen, von zu Hause wegzulaufen. Ein paar mehr, gut, vielleicht 3-5%, aber so viele? War gerade ein großer Ausreißerfilm im Kino? Alex wusste nichts dergleichen.
    Vielleicht ein neuer Mädchenhändlerring, der sich auf Berlins Straßen bediente, und erst in ein paar Wochen würde man feststellen, dass der durchschnittliche Prozentsatz der Heimkehrer nicht mehr stimmte. Dass von den Vermissten nicht 98 % zurückkehrten, sondern von den 20% Steigerung kein einziger. Keine einzige. Das wären 80 oder 90 verschleppte Personen.
    Alex beschwor sich, sich nichts einzureden, keinen Teufel an die Wand zu malen, doch er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Das konnte am übersüßten Kaffee liegen, aber oft genug hatte sein Gefühl Recht behalten. Und es sagte ihm, dass irgendwas in Berlin nicht stimmte, und zwar nicht nur mit ihm. Morgen würde er bei der Polizei anrufen und schauen, ob er mehr über die Vermisstenstatistik in Erfahrung bringen konnte. Ob sich für den Mai schon eine Tendenz abzeichnete und wie viele April-Ausreißer schon zurück waren. Hier lauerte eine Geschichte, das spürte er.
    Erst musste er das Radiofeature über Edgar Allan Poes Erben möglichst schnell zu Ende bringen, und dann sollte er endlich wieder einmal auf eigene Faust recherchieren, anstatt auf alberne Aufträge wie die Gothic-Satanisten zu warten, die er dann doch ablehnte. Geld verdiente er in den nächsten zwei Monaten mit Auflegen und dem Wake-the-dead- Festival, das er mitorganisierte. Da konnte er sich journalistisch doch um ein Thema kümmern, das ihn packte, das er sich selbst wählte, das nicht von außen an ihn herangetragen wurde. Mochten Kollegen das auch unprofessionell und Zeitverschwendung nennen - wenn er etwas herausfand, würde er auch einen Ort finden, es zu veröffentlichen.
    Viel zu viel war in den letzten Tagen und Wochen passiert, vom Ritualmord in Schöneberg bis zu den gestiegenen Vermisstenzahlen, von dem abgeschlachteten Studenten in Pankow bis zu den gestohlenen Blutkonserven. Natürlich bestand nicht zwischen allen Ereignissen ein Zusammenhang, so einfach funktionierte die Welt nur in den Köpfen von Verschwörungstheoretikern, doch irgendetwas stimmte dennoch nicht.
    So wie mit ihm etwas nicht stimmte.
    Gab es andere, die sich in letzter Zeit wie er verändert hatten? Die sich zerrissen fühlten wie er, zerrieben zwischen Schüben von Einsamkeit, Begehren, Leere, Hass und Wut?
    Die makellose Danielle war sicher nicht normal gewesen, sie hatte das Gilgamesch und sein Schlafzimmer mit ihrer Präsenz ausgefüllt, und nun schien sein Schlafzimmer verlassen und leer, obwohl es mit dem großen Schrank, Bett und dem mit T-Shirts, Hemden und Hosen beladenen Sessel

Weitere Kostenlose Bücher