Gebissen
Waschbecken.
Danielle log nicht, was die Vampirgeschichte betraf, davon war er inzwischen überzeugt, aber heute Morgen war er nicht sicher, wie weit er ihr vertrauen durfte. Nephilim und Vampire waren verfeindet, hatte sie gesagt, doch noch immer nicht, weshalb sie zurückgekehrt war. Würde sie ihn vielleicht irgendwann erdolchen, wie im Traum?
Er wusste nichts von ihr.
Die hellblau-weißen Bodenfliesen sahen aus, als betrachte man Wolken von einem Berggipfel aus oder aus einem Flugzeugfenster; unbewusst suchte Alex nach vertrauten Formen, Gesichtern oder einem dunklen Punkt, der seinen Blick zur Ruhe kommen lassen würde. Aber er dachte nur an Rauch, an die brennende Scheune aus seiner Kindheit, auch wenn deren Qualm natürlich schmutzig und grau gewesen war.
In Gedanken fuhr er sich über die Narbe, totes Gewebe, das weder juckte noch pochte.
Wanne, Waschbecken, Kloschüssel, Wände, Decke, alles hier drin war weiß. Es erinnerte ihn an ein Krankenhaus. Konnte man jemandem, der hier freiwillig lebte, wirklich trauen? Nur die Jalousie vor dem langen Dachfenster zeigte einen gemalten Sonnenaufgang, das schwere Rot wirkte in diesem Umfeld noch kräftiger. Der Pinselstrich war unruhig, ähnlich wie der van Goghs, und Alex wurde von dem Gedanken überfallen, das Bild wäre mit Blut gemalt. Dabei verspürte er keinen Durst, nicht die geringste Lust, es abzulecken. Es war ja nur Farbe.
Plötzlich und unvermittelt überkam ihn doch der Durst nach Blut, er sehnte sich nach seinem Geschmack. Gierig kratzte er sich den Schorf von der Narbe, ließ die Bruchstücke zu Boden fallen, er wollte frisches, rotes, warmes Blut, wollte heraussickerndes lecken, nicht das getrocknete knabbern, doch kein Tropfen quoll hervor. Unter dem Schorf war nur frische rosa Haut. Verflucht!
Durstig presste er sich die Narbe gegen die Lippen, riss den Mund auf, doch er biss nicht zu. So plötzlich, wie er gekommen war, verschwand der Durst wieder.
Sein Körper verlangte nach Kaffee, und Alex fragte sich, ob es tatsächlich Vampire gab, die das eigene Blut tranken, die sich selbst bissen, wenn sie Durst hatten. Oder ging es immer um fremdes Blut, um die Jagd, ums Töten?
Er verspürte nicht die geringste Lust zu töten. Er konnte von sich nicht als Vampir denken, zu sehr fühlte er sich als Mensch. Hatte Danielle nicht gesagt, dass er möglicherweise gar kein richtiger Vampir war?
Sein Blutvater war tot - wie viel von seiner Seele konnte noch in Alex stecken? Er dachte an das Gefühl, etwas Schwarzes wäre in ihm geschlüpft, aus der Leere hervorgebrochen. Dieses Etwas war tot gewesen.
Er war ein Mensch, verdammt, er würde sich von dem Durst nach Blut nicht übermannen lassen. Er würde sich dagegen wehren, zu einem bluttrinkenden Monstrum zu werden, getrieben von Gier. Er würde darum kämpfen, seine Menschlichkeit zu behalten, und sich von niemandem zwingen lassen, zu einem Mörder zu werden; nichts anderes waren diese Vampire doch. Sein ganzes Leben lang hatte er sich dagegen gewehrt, sich den Erwartungen anderer zu unterwerfen, jetzt würde er sicher nicht zum Handlanger einer längst toten, verbrannten Kreatur mutieren.
Seine Gedanken und Gefühle sprangen wild umher, sekundenlang überschwemmte ihn Glück über seine plötzlich entdeckte Stärke, dann wieder Angst vor dem, was noch kommen würde, auch Scham über das, was er Lisa angetan hatte. Wenn er daran dachte, wie sie wimmernd auf dem Boden gekauert hatte, stach es ihm ins Herz. Als wäre er in sie verliebt, nicht in Danielle. Wütend schlug er die Faust gegen die Wand.
Noch nie hatte er jemanden begehrt wie Danielle. Er wusste, dass er sich für sie immer wieder zum Affen machen würde, und auch dieses Wissen würde ihn nicht davor bewahren. Für sie würde er seine Eltern verletzen, seine Schwester, seine Freunde, so wie er es gestern mit Lisa getan hatte. Egal, wie sehr er es bedauerte, er würde es wieder tun, wieder und wieder. Er wusste, dass er nicht anders konnte. Und zugleich wusste er nicht, ob er Danielle vertrauen konnte, ob er es durfte. Im Traum hatte sie ihn erdolcht.
Aber er musste ihr vertrauen, zumindest ein wenig, er hatte sonst niemanden. Er konnte ja schlecht Koma bitten, ihm zu erklären, wie man als Vampir durchs Leben kam, oder als Beinahe-Vampir.
Zu viel war geschehen, zu viel hatte sich verändert, und zu schnell, er wusste nicht, wie er einen klaren Kopf bekommen sollte, Ordnung in seine wirren Gefühle und Gedanken.
»Es tut mir leid, Lisa,
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