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Gebissen

Gebissen

Titel: Gebissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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Lisa sträubte sich dagegen, durch diese Tür zu gehen, doch sie wusste, dass sie es nicht verhindern konnte. Tief holte sie Luft, und als Sandy nach der schwarzen Klinke griff, versuchte sie sich gegen alles zu wappnen, was sie sich vorstellen konnte.
    Dahinter öffnete sich ein dunkler, von wenigen schwachen, flackernden Lichtquellen erleuchteter Saal, dessen Decke geschwungen war wie in einem Gewölbe und höher lag als die des Gangs, vermutlich reichte sie bis direkt unter die Grasnarbe hinauf. Der Boden des Saals lag noch zwei Meter tiefer, eine schwarze Stahltreppe ohne Geländer führte vom Eingang hinab. Der ganze Raum hatte etwas von der Kühlhalle einer historischen Bierbrauerei, doch zwei parallele Reihen aus massigen gemauerten Pfeilern entlang der Längswände verliehen ihm zugleich etwas Sakrales. Das Kopfende war noch schwächer erleuchtet als der Rest und für Lisa von hier nicht richtig zu erkennen, die Decke unverputzt. Der dunkle Boden bestand aus blanker Erde.
    Feuchte Erde, die zwischen die Zehen drang und sich dort festsetzte, wie Lisa feststellte, als sie hinabgestiegen war. Die Erde kühlte ihre schmerzenden Sohlen, legte sich schmatzend auf die brennenden Wunden, das stechende Kribbeln von der Straße draußen war wieder da, viel intensiver jetzt. Das Blut in ihren Füßen pochte.
    Das Keuchen, das sie bereits im Gang gehört hatte, war nun deutlich zu vernehmen, doch sie konnte nicht erkennen, wo sein Ursprung lag, er musste von einer der breiten Pfeiler verdeckt sein.
    Sowieso konnte sie nicht viel erkennen, es gab nirgendwo elektrische Beleuchtung, hier und da hingen alte Öllampen oder Fackeln an den Pfeilern und Wänden. Sie entdeckte alte sepiafarbene Postkarten von Berlin und eingerissene feuchte Poster mit verblichenen Farben, auf die Wachs getropft war. Einer der mannshohen Berliner Plastikbären, die zuhauf über die gesamte Stadt verteilt waren, lehnte an einem Pfeiler, das Gesicht auf den Eingang gerichtet, die Arme erhoben, als würde er sich ergeben. Er war vollkommen schwarz angemalt, Fell, Augen, Schnauze, Maul, alles.
    Kleine kitschige Nachbildungen der Berliner Sehenswürdigkeiten aus Messing oder Kunststoff standen auf verschiedenen Simsen oder in Wandvertiefungen herum, auf einen Fernsehturm war eine brennende Kerze gesteckt worden. Auch neue Postkarten waren an die Ziegelwände genagelt, die meisten zeigten Berlin bei Nacht. Irgendwo lag ein Kissen mit dem Aufdruck Ein Herz für Berlin. Auch das Herz war schwarz.
    Zwischen all diesen seltsamen Liebeserklärungen an die Stadt hingen zahlreiche Fotos unterschiedlicher Menschen. Es waren keine Berliner Prominenten, sondern irgendwelche privaten Urlaubsbilder, von Familienfeiern, Hochzeitsfotos oder auch aus Führerscheinen gerissene Passbilder und Ausschnitte aus größeren Fotografien. Viele waren von kleinen Löchern durchstoßen; in der Stirn einer lachenden Frau mit brünetten Locken steckte noch ein mit braunen Flecken überzogener Nagel, der gut zwölf oder fünfzehn Zentimeter maß. Andere Bilder waren mit dunkelroten oder schwarzen Stiften beschmiert worden, meist waren die Augen nur noch unkenntliche schwarze Löcher. Auf einem Foto stand »Schlampe verrecke!«.
    »Tod!«
    »Stirb!«
    »Nie wieder Glück!«
    »Soll Dein Schwanz verschimmeln!«
    »Warum?«
    »Arsch!«
    Jedes dieser Wörter zeigte eine andere Handschrift, aber fast alle Buchstaben waren fett in das Papier gedrückt, manche hatten gar Löcher hineingerissen.
    Sorgfältig ausgeschnittene Gesichter klebten auf den Köpfen der unterschiedlichsten Puppen, auf Spielzeugfiguren, auf Weihnachtsengeln und selbst gebastelten Strohpuppen. Sie alle waren irgendwo gekreuzigt oder gehenkt worden, manchen sogar die Gliedmaßen ausgerissen, anderen ein Loch zwischen die Beine gebrannt.
    Lisa dachte an ihr Voodoo-Shirt und wusste, woher Sandy die Idee dazu gehabt hatte.
    Doch es gab auch unversehrte Bilder, golden gerahmt und gesondert platziert wie Ikonen. Die meisten waren schwarz umrahmte Totenbilder. Auf sie hatte niemand etwas geschmiert, nur manchmal stand darunter: »Warum?«
    Die ganze Halle schien ein bizarrer Schrein für Leid und Hass zu sein.
    Langsam ließ sich Lisa zur Mitte der rechten Längswand führen, wo sich ein schmaler Durchgang im Stein abzeichnete. Die Bilder, das Keuchen, das alles machte sie fertig. Es war, als würde sie mit der feuchten modrigen Luft auch all die Wut und das Leid einatmen, das die Leute empfunden hatten, die diese grausige

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