Gebissen
sagte sie: »Ja, ich kann sie spüren, natürlich.«
»Ich wusste es!« Sandy strahlte. »Dann geh einfach los, warte nicht. Ich bleib bei dir.«
»Losgehen? Aber wohin denn?«
»Hör auf den Boden, folge ihm. Achte darauf, was die Erde dir sagt, lass dich weder von mir noch von sonst wem ablenken.«
Von sonst wem war gut, es war doch niemand hier. Dem Boden folgen, das klang nach so einem Psychospielchen, irgendeiner Selbstfindungsnummer, von wegen wieder Einswerden mit Mutter Erde. Das kannte sie von Tante Claire, die ihr jedes Jahr zu Weihnachten einen esoterischen Lebensratgeber schenkte und auf einer beigelegten Karte schrieb, das Buch hätte ihr viel geholfen. Da sie weiterhin einen Ratgeber nach dem anderen fraß, anscheinend nicht genug.
Wahrscheinlich war dieses Barfußlaufen nach Gespür so etwas wie Pendeln, wo man dem Unterbewusstsein die Kontrolle überließ. Zwar hatte sie keine Ahnung, wie das mit der Straße funktionieren sollte, doch sie hob ihre Schuhe auf und blickte unsicher zu Sandy. Die stand so da, als wolle sie jeden Moment die verlassene Straße hinunterlaufen, weg von den Geräuschen der Hauptstraße. Also stakste Lisa in diese Richtung los und achtete sorgsam darauf, nicht in Glassplitter oder Hundedreck zu treten. Vor allem Splitter gab es hier reichlich.
»Ich wusste es! Du bist eine von uns.« Sandy schritt neben ihr her, und Lisa fiel wieder ein, dass Sandy ja irgendwen kennengelernt hatte. Keine Sekte, hatte sie gesagt, aber sonst nichts verraten.
»Eine von wem?«
»Hab noch ein bisschen Geduld, du wirst sie gleich kennenlernen.«
»Autsch.« Lisa war in irgendwas getreten. Sie hob den Fuß und entdeckte einen kleinen Einstich am Ballen unter der großen Zehe, aus dem ein Tropfen Blut drang. »Jetzt langt’s, ich zieh die Schuhe wieder an.«
»Nein!«, sagte Sandy sofort. »Es ist wichtig. Glaub mir, die kleine Wunde verheilt ruckzuck, und jetzt wirst du ihn noch deutlicher spüren. Ich hab das schon hinter mir, vertrau mir.«
»Wenn Dreck reinkommt, eitert die Wunde«, protestierte Lisa leise, aber sie setzte den Fuß ab und lief weiter, in jeder Hand baumelte ein Schuh. Sollte Sandy doch ihr kleines Spielchen bekommen, sie hatte keine Lust und keine Kraft, ihr zu widersprechen.
Bei jedem Schritt kribbelte die Fußsohle ganz leicht, hoffentlich war das nicht schon eine beginnende Blutvergiftung. Dann fiel ihr auf, dass beide Fußsohlen kribbelten, auch die unverletzte. War das die Durchblutung, die durch das Barfußlaufen gefördert werden sollte? Oder war es dieses Kribbeln, nach dem Sandy vorhin gefragt hatte?
Spürst du es?
Es war fast wie ein Jucken, kleine Borsten, die sich von unten gegen die Haut drückten, wie eine Massagebürste, nur nicht ganz so angenehm, eher wie eine Stahlbürste. Doch das Kribbeln gab ihr Energie, es pushte sie, und das tat unheimlich gut. Wenn sie jetzt Alex begegnen würden, würde sie ganz sicher nicht weglaufen, sondern ihm in die Eier treten, bis er sich vor Schmerz am Boden krümmte, und vielleicht noch ein bisschen länger. Von wegen, sie brauche nur einen guten Fick! Aber ganz sicher nicht mit ihm! Den konnte er sich sonst wohin stecken.
Langsam beschleunigte sie auf normales Tempo, mit jedem Schritt wurde sie sicherer, gewöhnte sich mehr an das Gefühl, auf Borsten zu laufen. Bedauernd sah sie auf ihre Schuhe und zuckte mit den Schultern. So schlimm war es auch nicht.
Schließlich erreichten sie eine wirklich dunkle Straße, die an einem verlassenen Industriegelände vorbeiführte. Die Hälfte der Laternen war ausgefallen, und die andere schien seit der Wende nicht mehr geputzt worden zu sein, so trüb war ihr Schein.
Sandy wurde langsamer und sah Lisa an - fast wie ein Dozent bei der Prüfung, irgendwas hatte sich an ihrem Verhältnis verschoben, das wurde Lisa erst jetzt bewusst. Sie ließ sich nicht einfach nur helfen, sie hatte sich untergeordnet, ließ sich barfuß durch die Stadt kommandieren, obwohl ihre Füße wehtaten. Sandy hatte ihr zweifellos geholfen, rechtzeitig vor Alex zu fliehen, aber sollte eine Freundin einem in so einem Moment nicht unterstützen, statt seltsame Spielchen zu spielen? Sicher meinte sie es gut, aber mit jedem Schritt war das Kribbeln unangenehmer geworden; Lisa war bestimmt schon auf fünfhundertundzwölf spitze Steinchen gelatscht und hatte keine Lust mehr.
»Und jetzt?«, fragte Sandy.
»Jetzt ist Schluss.« Lisa ließ die Schuhe auf die Straße fallen. »Ich mag nicht mehr.«
»Du hast
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