Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
das nichtkoschere Fleisch, auch die Suppe aus Pferdeknochen, die nach Wasser schmeckt. Und sie betet. Ein Gebet gegen den Hunger, gegen den Tod und für das Kind. Jetzt muss sie nicht nur um sich selbst Angst haben, sondern auch um ihr Baby. «Ich hatte aber immer das Gefühl, dass jemand, vielleicht waren es meine Eltern, von oben auf mich schaut und über mich wacht.» Die Qual hört nicht auf, aber Miriam versucht sich auf einen Gedanken zu konzentrieren: «Ich werde dich nach Hause bringen», sagt sie immer wieder zu dem Kind in ihrem Bauch.
Und sie hat Glück. Der polnische Kapo Heinrich Reichsfeld braucht 20 Frauen für sein Kommando. Als Erste nimmt er Miriam. In seinen Lederstiefeln und mit seiner Lederpeitsche erscheint ihr der etwa 35-Jährige aus Krakau, der Jiddisch und Polnisch spricht, wie ein SS-Mann. Die Frauen sollen in einer Baracke Kissen und Federbetten der deportierten und ermordeten Juden nach Geld und Schmuck durchsuchen. «Ich bin auch ein Jude und habe dich genommen, weil du wie meine Tochter aussiehst. Sie ist tot», sagt er zu Miriam. Eines Tages nimmt er sie zur Seite und fragt sie, ob es stimme, dass sie ein Baby erwarte. Miriam bringt vor Angst kein Wort heraus. Eine der Frauen musste ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt haben. Aber in diesem Mann hat sie einen Freund gefunden. Jeden Abend bringt Heinrich Reichsfeld ihr ein Stück Wurst, Käse, Brot oder Kartoffeln. «Einmal brachte er mir sogar ein hart gekochtes Ei, so etwas war im Lager unvorstellbar.» Er will, dass sie überlebt. «Du musst leben, du musst das Kind haben», redet er auf Miriam ein. Unter den vielen brutalen Kapos von Płaszów ist dieser Mann eine Ausnahme. Aber nicht nur deshalb ist das Arbeitskommando Reichsfelds begehrt. Die halb verhungerten Frauen haben ein Dach über dem Kopf und müssen keine körperlich schwere Arbeit verrichten. Andere Frauen aus ihrer Baracke, die Reichsfelds Zuneigung zu der jungen Frau aus Komárno bemerken, bestürmen Miriam, für sie einen Platz in dem Kommando zu beschaffen. Aber sie kann nichts machen. Mehr als 20 Frauen sind Reichsfelds Kommando nicht erlaubt.
Schon wieder fallen Schüsse. Fast jede Nacht sehen die Frauen durch die Ritzen in den Holzwänden ihrer Baracke Hinrichtungen. Sie hören die Befehle und die Schreie der Opfer. Hunderte von polnischen Partisanen und Mitglieder des Untergrunds, manchmal noch Schüler, die vielleicht nur einer unbedachten Äußerung wegen denunziert oder bei Razzien verhaftet wurden, werden in Płaszów erschossen. In dem Lager gibt es drei Hinrichtungsstätten. Eine liegt direkt neben Miriams Baracke. Im Sommer 1944 finden die Exekutionen nahezu täglich statt. Auch Miriam und Eva droht eines Tages die Erschießung. Nach der Flucht eines Häftlings müssen alle ungarischen Jüdinnen auf dem Appellplatz antreten. Die SS-Wachen teilen ihnen mit, dass zur Strafe jede Zehnte erschossen wird. Einen ganzen Tag lang stehen sie und warten darauf, was passiert. Immer wenn die Wachen wegschauen, halten sich Eva und Ida die Hände. «Es war ein schreckliches Gefühl, nicht zu wissen, ob man nicht die Zehnte sein wird.» Unter den Frauen bricht Panik aus. Ein Mädchen aus Košice glaubt, auf dem verhängnisvollen zehnten Platz zu stehen, und drängt sich vor die Gruppe der Frauen aus Dunajská Streda. Alžbeta Politzer, eine eher sanftmütige Frau, gibt ihr eine Ohrfeige und stößt sie weg. Auch die Nerven von Eva liegen blank. Aber sie überlebt. Sechs Jahrzehnte später wird eine Überlebende aus Israel, die Dunajská Streda besucht, ihre Erinnerung an diesen schrecklichen Tag wieder wecken: «Du warst damals die Neunte in der Reihe, meine Schwester kam nach dir.»
Nur wenn Heinrich Reichsfeld in der Nähe ist, fühlt sich Miriam sicher. Sie weiß, dass der Kapo über sie seine schützende Hand hält. Sie muss keine Steine schleppen, arbeitet in einem trockenen Raum, und immer wieder bringt er ihr etwas zu essen. Eines Tages, es ist Anfang August, stürmt er herein, seine Stimme klingt nervös. «In zwei, drei Tagen wird das Lager evakuiert, ihr werdet in ein anderes Lager gebracht», teilt er den überraschten Frauen mit. Dann nimmt er Miriam beiseite und redet auf sie ein. Sie solle bei ihm bleiben, man wird sie alle vielleicht nach Auschwitz zurückbringen. «Hier werden uns die Russen bald befreien. In Auschwitz gehst du aber ins Gas.» Auch am nächsten Tag lässt Reichsfeld nicht locker, er will sie überzeugen. Sein hilfloser Blick trifft
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