Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
überraschten Blick, wenn er zum ersten Mal sein Kind sehen würde. Das ist deine Tochter, willst du sie in den Arm nehmen? Das wollte sie ihm sagen. Stattdessen empfängt Rezsö sie, der nicht verbergen kann, wie enttäuscht er ist. «Wessen Kind ist das?», fragt er nach einer kurzen Pause. Als er Evas Antwort hört, stutzt er und schaut sie ungläubig an. Von ihrer Schwangerschaft wusste er nicht. Ist das wahr? Kein einziges jüdisches Kind aus Dunajská Streda kehrte zurück, alle sind in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet worden. Und diese Frau bringt einen Säugling mit und behauptet, es sei Gézas Kind. Rezsö erinnert sich an jene Nacht, als er seinen Bruder zum letzten Mal sah. Warum sagte ihm Géza nichts davon? War das also der Grund, warum er nicht mit ihm, sondern mit Eva gehen wollte? Neugierig geht er auf Eva zu und betrachtet das Kind. Sein Misstrauen schwindet. Das Gesicht der Kleinen ähnelt so sehr dem seines jüngeren Bruders, dass es keinen Zweifel gibt. Auch Rezsös älterer Bruder Jenö kommt heraus. Er umarmt Eva herzlich und lacht fröhlich, als er die überraschende Neuigkeit erfährt. Unglaublich, dass Eva das Kind im Lager gebar und auch noch durchbringen konnte. Wie schaffte sie das bloß? Er und Rezsö waren im Arbeitsdienst, wissen aber aus den Erzählungen Überlebender, was für eine Hölle die deutschen Konzentrationslager waren. Heute aber ist Eva zu erschöpft, um Gézas Brüdern die Geschichte ihrer Rettung zu erzählen. Außerdem hat Marika Hunger. «Kann ich bei euch bleiben?», fragt sie mit zitternder Stimme.
Der Heimweg war mühsam. Bereits in Dachau erfahren Eva und Miriam, dass Dunajská Streda und Komárno nicht mehr zu Ungarn, sondern zur neu gegründeten Tschechoslowakei gehören. Lastwagen der amerikanischen Armee bringen die Überlebenden aus der Tschechoslowakei nach Pilsen. Von dort aus muss jeder selbst schauen, wie er nach Hause kommt. Zum Glück entdeckt Eva in der Menschenmasse, die sich in alle Richtungen zu zerstreuen beginnt, ein bekanntes Gesicht. «Ein Roma aus Dunajská Streda, der wie ich in Dachau befreit wurde, sprach mich an. Wir beschlossen, gemeinsam weiterzugehen.» Nach einigen Stunden Suche finden sie einen Güterzug, der nach Osten, in die Slowakei, fährt. Fast drei Tage dauert die Reise, einen Teil des Wegs müssen sie zu Fuß gehen. Ab und an hält ein Bauer mit seinem Pferdewagen und nimmt sie ein Stück mit. Die Hitze des beginnenden Sommers setzt ihnen zu. «Mein Begleiter trug die ganze Zeit Marika. Ich war ihm so dankbar für diese Hilfe, allein hätte ich es nicht geschafft.» Endlich kommen sie in einem Vorort von Bratislava an. Von hier aus geht es nicht weiter. Die Eisenbahnbrücke ist zerstört, und nach Dunajská Streda sind es noch gute 50 Kilometer. Eva fehlt die Kraft, um weiterzugehen. Die Essensvorräte, die jeder Rückkehrer von den Amerikanern für den Heimweg bekommen hat, sind längst aufgebraucht. Eva ist verschwitzt, auf ihrem Gesicht klebt Staub. Erschöpft setzt sie sich an den Straßenrand und will gerade ihre Tochter stillen, als eine Frau, die in der Gegend wohnt, vorbeikommt. «Sie nahm uns mit in ihr kleines Haus nach Vrakuň a, einem Dorf bei Bratislava, gab uns Brot und Milch, und wir konnten uns waschen.» Eva und ihr Begleiter bleiben zwei Nächte, dann hält sie es nicht mehr aus. Sie will weiter, bestimmt wartet Géza schon auf sie. Am frühen Morgen spannt die Bäuerin den Pferdewagen an und bringt sie zum Zentralbahnhof von Bratislava, von dem aus noch Züge fahren. Wie berauschend ist es, frei zu sein und den Klang der vertrauten Sprache zu hören! Am Abteilfenster ziehen bekannte Ortschaften vorüber. Sie fährt nach Hause, zu Géza. Am frühen Abend erreicht der Zug Dunajská Streda.
Mehrere Wochen sind schon vergangen, seitdem Eva an die Tür von Gézas Elternhaus geklopft hat. Von seinen fünf Geschwistern – der Sechste, József, starb schon vor dem Krieg – sind inzwischen vier zurückgekehrt. Neben Rezsö und Jenö Bözsi, die ältere der beiden Schwestern, und Kubi, der Jüngste der vier Brüder. Lily starb in Bergen-Belsen. Auf die Rückkehr ihrer Eltern hoffen die Geschwister nicht mehr. Aber wo ist Géza, warum kommt er nicht nach Hause? Diese Frage diskutieren sie ständig. Niemand wünscht sich seine Rückkehr sehnsüchtiger als Eva. Das Warten auf ihn füllt ihre Tage aus. Von dem Haus der Stecklers bis zum Bahnhof ist es nicht weit. Jeden Tag, in Sonne oder Regen, läuft sie
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