Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
mit Marika im Arm die Straße hinunter und wartet auf dem Bahnsteig. Wenn ein Zug mit quietschenden Bremsen einfährt, richtet sie mit der Hand aufgeregt ihr Haar und prüft noch einmal nach, ob die weiße Mütze auf Marikas Kopf fest sitzt. Sie beide sollen hübsch aussehen, wenn Géza sie zum ersten Mal sieht. Aber dazu kommt es nicht. Die Waggontüren schwingen auf, Menschen steigen aus, aber Géza ist nicht dabei. Die Frauen und Männer werden sofort von Wartenden umringt und mit Fragen überhäuft. Wo waren Sie? Haben Sie meine Frau gesehen, von meiner Schwester gehört, war mein Cousin vielleicht mit Ihnen im Lager? Auf die meisten Fragen schweigen die Ankommenden, schütteln nur mit dem Kopf. Manchmal hört Eva lautes Schluchzen oder einen freudigen Ausruf des Wiedererkennens, der sogleich erstirbt, als schäme man sich vor den traurigen Blicken der anderen. Jeden Tag das gleiche Bild. Auf dem Bahnsteig von Dunajská Streda, einer Stadt, in der vor kurzer Zeit noch das jüdische Leben blühte, stehen die Wartenden, eingehüllt in stille Verzweiflung.
Die ersten Monate in Freiheit bringen für die Mehrheit der Überlebenden die schmerzhafte Einsicht, dass ihre Liebsten nicht mehr nach Hause zurückkehren werden. Von 3500 Juden aus Dunajská Streda überlebten den nationalsozialistischen Völkermord nur etwa 600 Frauen und Männer. An einem warmen Sommerabend 1945 versammeln sie sich im Innenhof der Großen Synagoge. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Gemeinsam gehen alle zum jüdischen Friedhof. In ein leeres Grab werden die Reste der Torarollen und jüdische Gebetsbücher gelegt, die manche retten konnten. Die Trauerrede hält Jechiel Weinberger, Sohn des früheren Rabbiners, der in Auschwitz ermordet worden ist. Die Versammelten fühlen, dass auch die lange Geschichte der beiden jüdischen Gemeinden von Dunajská Streda in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern ein Ende gefunden hat. Es wird nie wieder so sein wie früher. In ihren Gedanken ist Eva bei ihren Liebsten. «Ich bin ganz allein geblieben. Meine Eltern und Geschwister kamen nicht mehr zurück. Géza war nicht da, und ob Ida überlebt hatte, wusste ich nicht.» Auch Frida, ihre ältere Schwester, war tot, sie starb mit ihrem Kind am Budapester Donauufer im Kugelhagel ungarischer Pfeilkreuzler.
Anton Paszternák hebt das schwere Eisengitter aus der Verankerung, lehnt es vorsichtig an die Wand der Synagoge und holt aus einer Nische in der Mauer ein dickes, großes Buch heraus. Die Konstruktion symbolisiert die Öfen von Auschwitz. Der Foliant enthält auf mehr als hundert Seiten die Namen der Toten. Mit dem Zeigefinger fährt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Komárno die Zeilen entlang, bis er auf den Namen Schwartz stößt. Dutzende dieses Namens stehen auf den Blättern geschrieben, darunter auch Männer, Frauen und Kinder aus Miriams Familie. Paszternák vertritt die noch etwa 60 Juden der slowakischen Kleinstadt an der Grenze zu Ungarn, den Rest der einst 2170 Mitglieder starken Gemeinde. Menház, das Gemeindezentrum in der Eötvösa 15, wird noch heute genutzt. Das Backsteingebäude beherbergt eine Bäckerei, die restaurierte Synagoge des ehemaligen Altenheims, ein Büro und ein Museum. Die wenigen Erinnerungsstücke haben in einem Zimmer Platz gefunden. In einer Glasvitrine ist eine Fotografie Miriams und ihrer Schwester Lilly ausgestellt. Der 55-jährige Paszternák ist ein viel beschäftigter Mann, immer in Eile, das Mobiltelefon ständig am Ohr. Aber wenn er, den Blick in sich gekehrt, vor dem prächtigen Gebäude der Neologischen Synagoge ein paar Schritte vom Menház entfernt steht, dann wird die Traurigkeit des Mannes spürbar. In dem Haus stehen heute die Sportgeräte eines Fitnessstudios. Miriams Elternhaus ist verschwunden, es ist 1969 abgerissen worden. Heute blicken die Bewohner eines mehrstöckigen Plattenbaus auf die Eisenbahnschienen und den breit dahinfließenden Strom der Donau. Das Gebäude der orthodoxen Synagoge dient als Altenheim, Männer und Frauen gehen im Garten spazieren. Hier war die Suppenküche untergebracht, in der Miriam nach ihrer Rückkehr aus Dachau half.
Juni 1945. László liegt in einem Kinderwagen, während Miriam an die Geretteten aus einem großen Kessel Suppe ausschenkt und Brot verteilt. Viele Überlebende verschlägt es in diesen Wochen nach Komárno. In der Suppenküche wartet jeden Tag eine lange Schlange hungriger Menschen. Die meisten ziehen weiter nach Budapest oder
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